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Die sogenannte wirtschaftliche Einheit: Auslegungsfragen zur neu eingeführten akzessorischen Konzernhaftung im deutschen Kartellbußgeldrecht (Thomas, AG 2017, 637)

Mit der 9. GWB-Novelle, die am 9.6.2017 in Kraft getreten ist, hat sich der deutsche Gesetzgeber dazu entschieden, für den Bereich des Kartellbußgeldrechts in § 81 Abs. 3a GWB das gesellschaftsrechtliche Trennungsprinzip aufzuheben, um eine schuldunabhängige akzessorische Bebußung von Muttergesellschaften zu ermöglichen. Vorbild war eine entsprechende Praxis der EU-Kommission. Gegenstand des vorliegenden Beitrags ist nicht eine Fortsetzung der Grundsatzdebatte, ob die Einführung einer solchen Akzessorietätshaftung rechtspolitisch sinnvoll war und verfassungsrechtlich haltbar ist. Vielmehr geht es im Folgenden um eine Bewertung der gesetzgeberischen Umsetzung dieses Anliegens durch die 9. GWB-Novelle. Wie sich zeigt, hat das Bestreben, einen möglichst weitgehenden bußgeldrechtlichen Zugriff zu ermöglichen, zu rechtssystematischen Spannungen und neuen rechtlichen Unklarheiten geführt. Es gibt im GWB nunmehr drei unterschiedliche Unternehmensbegriffe, die sich zudem vom EU-Konzept der wirtschaftlichen Einheit in Teilbereichen unterscheiden.

  1. Einleitung
  2. Das Konzept der sog. wirtschaftlichen Einheit nach § 81 Abs. 3a GWB
    1. Gründe für gesetzliche Regelung
    2. Voraussetzungen der Abhängigkeit von Tochtergesellschaften
      1. Tatsächliche Ausübung bestimmenden Einflusses
      2. Abweichung von der EU-rechtlichen Vermutungsregel
  3. Folgefragen zu § 81 Abs. 3a GWB
    1. Reichweite des kartellrechtlichen Unternehmensbegriffs
      1. Die drei Unternehmensbegriffe des novellierten GWB
      2. Verbundene Unternehmen nach  § 36 Abs. 2 GWB
      3. Der Begriff des "Unternehmens" i.S.v. § 81 Abs. 3a GWB
        • aa. Die Frage nach dem Zurechnungskreis
        • bb. Gemeinsame Beherrschung
          • (1) Auslegungszweifel
          • (2) Voraussetzungen tatsächlicher gemeinsamer Einflussnahme
        • cc. Näheverhältnisse ohne gesellschaftsrechtliche Vermittlung
      4. Die wirtschaftliche Einheit i.S.v. § 81 Abs. 4 Satz 3 GWB
        • aa. Divergenzen zu § 81 Abs. 3a GWB
        • bb. Haftungsbegrenzung durch horizontale Konzernstrukturen bei natürlicher Person mit multiplem Beteiligungsbesitz
    2. Haftungsfolgen beim Anteilserwerb
      1. Das Problem einer Nachfolgehaftung in die abgeleitete Verantwortlichkeit
      2. Verstoßkongruente Akzessorietätshaftung nach der Rspr. des EuGH
      3. Behördliche Sanktionsmöglichkeiten bei Anteilseignerwechsel an einer kartellbeteiligten Gesellschaft
      4. Anteilseignerwechsel und Kronzeugenanträge
    3. Kongruenzerfordernis zwischen § 81 Abs. 3a und Abs. 4 Satz 3 GWB
    4. Wiederholungstäterzuschlag

I. Einleitung
Das Konzept der sog. wirtschaftlichen Einheit im EU-Kartellrecht bedarf keiner langen Erläuterungen mehr.  Es sind lediglich folgende Bestandteile dieser Rechtsfigur, die in Anlehnung an ein wichtiges EuGH-Urteil auch als AKZO-Doktrin  bezeichnet wird, in Erinnerung zu rufen: Nach Ansicht der EU-Kommission und -gerichte soll aus der Erfassung wirtschaftlicher Einheiten als einheitliche Unternehmen im Sinne des Kartellrechts folgen, dass u.a. Muttergesellschaften für Zuwiderhandlungen ihrer Töchter bußgeldrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können, selbst wenn die Muttergesellschaft bzw. deren Management nicht an der Zuwiderhandlung beteiligt war.  Compliance-Maßnahmen der Muttergesellschaft können daher für diese selbst dann nicht exkulpierend wirken, wenn die Mutter alle ihr zu Gebote stehenden Einflussmöglichkeiten ausgeschöpft hat, um ihre Töchter von Zuwiderhandlungen abzuhalten.  Compliance-Programme sollen, im Gegensatz zu anderen Jurisdiktionen (z.B. UK  oder USA ), nicht einmal bußgeldmindernd berücksichtigt werden.

Dass eine solche schuldunabhängige  akzessorische Muttersanktion nicht aus einer kartellrechtlichen Verbundbetrachtung folgen muss, zeigte indes gerade das deutsche Kartellrecht bis zur 9. GWB-Novelle: Auch dort galt seit jeher über § 36 Abs. 2 GWB ein Unternehmensbegriff, der verbundene Rechtsträger zusammengefasst hat, wohingegen sich Sanktionen auf diejenigen juristischen Personen innerhalb des Unternehmensverbundes bezogen und beschränkt haben, deren Repräsentanten ein Verschulden für den Kartellverstoß anzulasten war. Die Verbundbetrachtung zur Erfassung wirtschaftlicher Macht ist das eine (Marktanteile, Umsätze etc.), die Adressierung von Rechten, Pflichten und folglich Sanktionen gegenüber Rechtsträgern das andere (Trennungsprinzip).  So existiert auch in den USA keine solche akzessorische ‚Konzernhaftung‘, wie sie die EU-Kommission praktiziert, sondern es wird das Trennungsprinzip beachtet.

Der Gesetzgeber der 9. Novelle hat sich dennoch für das deutsche Kartellbußgeldrecht dazu entschieden , die Haftungsfigur der sog. wirtschaftlichen Einheit im oben beschriebenen Sinne zu übernehmen.  Er kommt damit einer möglichen EU-rechtlichen Richtlinienvorgabe zuvor. So sieht der derzeitige Entwurf der EU-Kommission für eine Richtlinie zur Stärkung der nationalen Wettbewerbsbehörden (‚ECN+‘ ) vor, für das Kartellbußgeldrecht  eine Haftung von parent companies im nationalen Recht zu verankern, wenngleich dort eine diesbezügliche Verschuldensunabhängigkeit nicht ausdrücklich gefordert wird. Der Richtlinienentwurf befindet sich noch in der Abstimmungsphase.

Anzumerken ist ferner, dass im EU-Wirtschaftsrecht kein einheitlicher Sanktionsgrundsatz der akzessorischen Konzernhaftung herrscht. Die EU-Marktmissbrauchsrichtlinie knüpft die Sanktionierung beispielsweise an die einzelne juristische Person und verlangt insoweit, dass ...

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.10.2017 10:54
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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