Aktuell in der AG

Die Berücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer für die Berechnung der Schwellenwerte im Recht der Unternehmensmitbestimmung (Behme, AG 2018, 1)

Der Beitrag geht der Frage nach, ob die in ausländischen Betrieben und Tochtergesellschaften deutscher Gesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer für die Berechnung der Schwellenwerte von 500 Arbeitnehmern (§ 1 Abs. 1 DrittelbG) und 2.000 Arbeitnehmern (§ 1 Abs. 1 MitbestG) sowie der Schwellenwerte, die über die Größe und die konkrete Zusammensetzung des Aufsichtsrats entscheiden (§ 7 Abs. 1 MitbestG), mitzuzählen sind. Er zeigt auf, dass das Mitzählen der ausländischen Arbeitnehmer zwar nicht aus Gründen des europäischen Unionsrechts, wohl aber aus Gründen des deutschen Verfassungsrechts geboten und eine verfassungskonforme Auslegung der Schwellenwerte nach den anerkannten Auslegungsmethoden möglich ist. Das Ergebnis einer solchen verfassungskonformen Auslegung wird im Anschluss an die rechtliche Analyse einer rechtspolitischen Bewertung unterzogen.

  1. Einleitung
    1. Unternehmensgröße als Anknüpfungspunkt für gesellschaftsrechtliche Regulierung
    2. Arbeitnehmerzahl als Kriterium für die Unternehmensgröße
    3. Praktische Auswirkungen einer Berücksichtigung der ausländischen Arbeitnehmer bei der Ermittlung der Arbeitnehmerzahl
  2. Unionsrechtliche Beurteilung
    1. Aktives und passives Wahlrecht ausländischer Arbeitnehmer bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat
    2. Berücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer bei der Berechnung der mitbestimmungsrechtlichen Schwellenwerte
      1. Diskriminierung ausländischer Arbeitnehmer
        1. Diskriminierungsverbot gem. Art. 45 Abs. 2 AEUV
        2. Diskriminierungsverbot gem. Art. 18 AEUV
          • aa. Zum Verhältnis von Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 18 AEUV
          • bb. Tatbestand des Diskriminierungsverbots gem. Art. 18 AEUV
            • (1) Ungleichbehandlung ausländischer und inländischer Arbeitnehmer
            • (2) Benachteiligung ausländischer gegenüber inländischen Arbeitnehmern
      2. Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Deutschland beschäftigter Arbeitnehmer
      3. Zwischenergebnis
  3. Verfassungsrechtliche Beurteilung
    1. Tatbestand der Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 GG
      1. Ungleichbehandlung ausländischer Arbeitnehmer gegenüber inländischen Arbeitnehmern
      2. Ungleichbehandlung von Unternehmen mit hohem inländischen Belegschaftsanteil gegenüber Unternehmen mit hohem ausländischen Belegschaftsanteil
        1. Ungleichbehandlung im Anwendungsbereich des DrittelbG
        2. Ungleichbehandlung im Anwendungsbereich des MitbestG
        3. Benachteiligung von Unternehmen mit hohem  inländischen Belegschaftsanteil
          • aa. Erhöhung des Anteils der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat
          • bb. Erhöhung der gesetzlichen Mindestgröße des Aufsichtsrats
          • cc. Pflicht zur Bestellung eines Arbeitsdirektors
          • dd. Pflicht zur Erfüllung von Geschlechterquoten
      3. Ungleichbehandlung der Anteilseigner von Unternehmen mit hohem inländischen Belegschaftsanteil gegenüber den Anteilseignern von Unternehmen mit hohem ausländischen Belegschaftsanteil
        1. Ungleichbehandlung
        2. Benachteiligung der Anteilseigner von Gesellschaften mit hohem inländischen Belegschaftsanteil
      4. Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer von Unternehmen mit hohem ausländischen Belegschaftsanteil gegenüber den Arbeitnehmern von Unternehmen mit hohem inländischen Belegschaftsanteil
        1. Ungleichbehandlung
        2. Benachteiligung der Arbeitnehmer von Gesellschaften mit hohem ausländischen Belegschaftsanteil
          • aa. Verringerung des Anteils der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat
          • bb. Verringerung der gesetzlichen Mindestgröße des Aufsichtsrats
          • cc. Keine Pflicht zur Bestellung eines Arbeitsdirektors
          • dd. Keine Pflicht zur Erfüllung von Geschlechterquoten
      5. Zwischenergebnis
    2. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der  Ungleichbehandlung
      1. Maßstab der Rechtfertigungsprüfung
      2. Verhältnismäßigkeit
        1. Bedeutung des Willens des historischen Gesetzgebers
        2. Territorialitätsprinzip
        3. Einheit von Zählen und Wählen
          • aa. Wählen ohne Zählen
          • bb. Zählen ohne Wählen
        4. Praktische Schwierigkeiten
      3. Zwischenergebnis
    3. Rechtsfolge: Gebot verfassungskonformer Auslegung der mitbestimmungsrechtlichen Schwellenwerte
      1. Wortlaut und Systematik
        1. In ausländischen Betrieben beschäftigte Arbeitnehmer
        2. Bei ausländischen Tochtergesellschaften beschäftigte Arbeitnehmer
      2. Entstehungsgeschichte
      3. Sinn und Zweck der Schwellenwerte
      4. Zwischenergebnis
  4. Rechtspolitische Bewertung
    1. Regulatorische Fehlanreize bei Nichtberücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer
    2. Ausweitung der Mitbestimmung bei Berücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer
    3. Regelungsvorschlag: Erhöhung der Schwellenwerte unter Einbeziehung der ausländischen Arbeitnehmer

A. Einleitung
Gesellschaften treten im Rechts- und Wirtschaftsleben in vielfältigen Erscheinungsformen auf. Dieser Vielfalt trägt die Rechtsordnung Rechnung, indem sie unterschiedliche Gesellschaftsformen bereitstellt, die sich hinsichtlich der rechtlichen Anforderungen an die Gründung, die Organisationsstruktur und das Gesellschaftsvermögen fundamental unterscheiden. Rechtsformspezifische Differenzierungskriterien werden jedoch den tatsächlichen Unterschieden zwischen Gesellschaften nicht im Hinblick auf alle gesellschaftsrechtlichen Regulierungsziele gerecht. So können Gesellschaften unterschiedlicher Rechtsform in tatsächlicher Hinsicht große Ähnlichkeiten aufweisen (etwa eine mittelständische GmbH und eine mittelständische AG) und Gesellschaften gleicher Rechtsform können sich stark unterscheiden (etwa eine Einpersonen-AG und eine börsennotierte AG mit Tausenden von Aktionären und Arbeitnehmern).

I. Unternehmensgröße als Anknüpfungspunkt für gesellschaftsrechtliche Regulierung
Aus diesem Grunde ist das Gesellschaftsrecht für die Erreichung bestimmter Regulierungsziele auf weitere, rechtsformübergreifende Differenzierungskriterien angewiesen. Eines dieser Differenzierungskriterien ist die Unternehmensgröße. Es folgt der Erwägung, dass sich bei steigender Größe einer Gesellschaft der Kreis der von ihren Aktivitäten betroffenen Personen erweitert. Dementsprechend erhöhen sich die Anforderungen, denen sie genügen muss, um den Schutzinteressen dieser Personen Rechnung zu tragen. So differenziert § 267 HGB zwischen kleinen, mittelgroßen und großen Kapitalgesellschaften; nach der Einordnung richtet sich insbesondere der Umfang der im Interesse der Gesellschaftsgläubiger offen zu legenden Abschlussunterlagen (§§ 325, 326 HGB). Auch das DrittelbG und das MitbestG knüpfen für die Eröffnung ihres Anwendungsbereichs an die Größe der Gesellschaft an, da ein Bedürfnis nach Teilhabe der Arbeitnehmer an der dem Aufsichtsrat zugewiesenen Überwachung und Beratung des Leitungsorgans umso eher anzuerkennen ist, je größer die Gesellschaft ist. Dementsprechend findet bei „kleinen“ (d.h. mittelständischen) Unternehmen eine Mitbestimmung auf Unternehmensebene nicht statt; „größere“ Unternehmen werden durch das DrittelbG und „Großunternehmen“ durch das MitbestG erfasst.

II. Arbeitnehmerzahl als Kriterium für die Unternehmensgröße
Die Anzahl der Arbeitnehmer, die ein Unternehmen beschäftigt, ist ein wesentliches Indiz für dessen Größe. Dementsprechend wird sie in § 267 HGB als eines von drei Kriterien (neben Bilanzsumme und Umsatzerlösen) für die Einordnung einer Kapitalgesellschaft als „klein“, „mittelgroß“ oder „groß“ herangezogen.

Für die Eröffnung des Anwendungsbereichs des DrittelbG und des MitbestG ist die Arbeitnehmerzahl das einzig relevante Kriterium zur Abgrenzung mitbestimmungspflichtiger „Großunternehmen“ von mitbestimmungsfreien kleinen und mittelständischen Unternehmen. In der Regierungsbegründung zum MitbestG wird ausdrücklich klargestellt, dass ...

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.01.2018 10:14
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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