EuGH 20.3.2018, C-524/15 u.a.

ne bis in idem: Beschränkung des Grundsatzes zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und ihrer Finanzmärkte

Der Grundsatz ne bis in idem kann zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und ihrer Finanzmärkte beschränkt werden. Eine solche Beschränkung darf aber nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele zwingend erforderlich ist. Die italienische Regelung über Marktmanipulationen könnte gegen Unionsrecht verstoßen.

Hintergrund:
Nach dem Grundsatz ne bis in idem darf niemand wegen derselben Straftat zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft werden. Dieses Grundrecht ist sowohl in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union als auch in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verankert. In vier italienischen Rechtssachen wird der EuGH vorliegend um Auslegung dieses Grundsatzes im Rahmen der Mehrwertsteuerrichtlinie (Richtlinie 2006/112/EG) und der Finanzmarktrichtlinie (Richtlinie 2003/6/E) ersucht.

Der Sachverhalt:

+++ C-524/15 +++
Die italienische Finanzverwaltung verhängte gegen Herrn Luca Menci eine Verwaltungssanktion wegen unterlassener Abführung der Mehrwertsteuer für 2011. Anschließend wurde Herr Menci wegen derselben Tat vor dem Gericht von Bergamo strafrechtlich verfolgt.

+++ C-537/16 +++
Die italienische Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde (Consob) verhängte 2007 gegen Herrn Stefano Ricucci eine Verwaltungssanktion wegen Marktmanipulationen. Herr Ricucci ging gegen diese Entscheidung bei italienischen Gerichten vor. Im Rahmen seiner Kassationsbeschwerde beim Obersten Kassationshof machte er geltend, er sei bereits 2008 wegen derselben Tat rechtskräftig zu einer strafrechtlichen Sanktion verurteilt worden, die im Wege der Begnadigung erlassen worden sei.

Mit ihren Vorabentscheidungsersuchen möchten das Gericht von Bergamo und der Oberste Kassationshof vom EuGH insbesondere wissen, ob die Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit dem Grundsatz ne bis in idem vereinbar ist.

+++ Verbundene Rechtssachen C-596/16 und C-597/16 +++
Die Consob verhängte 2012 Verwaltungssanktionen gegen Herrn Enzo Di Puma und Herrn Antonio Zecca wegen Insider-Geschäften. Im Rahmen der beim Obersten Kassationshof erhobenen Klagen machten sie geltend, das Strafgericht habe in dem Strafverfahren wegen derselben Tat, das parallel zum Verwaltungsverfahren eingeleitet worden sei, festgestellt, dass die Insider-Geschäfte nicht erwiesen seien. Die Rechtskraft dieses endgültigen freisprechenden Strafurteils verbiete nach dem nationalen Prozessrecht die Fortsetzung des Verwaltungsverfahrens wegen derselben Tat. In diesem Zusammenhang möchte die Corte suprema di cassazione vom EuGH wissen, ob die Finanzmarktrichtlinie i.V.m. dem Grundsatz ne bis in idem einer solchen nationalen Regelung entgegensteht. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, für Verstöße gegen das Verbot von Insider-Geschäften wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Verwaltungssanktionen vorzusehen.

Die Gründe:
In den vorliegenden Situationen kann es eine Kumulierung "strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen/Sanktionen" mit "verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen/Sanktionen strafrechtlicher Natur" zu Lasten derselben Person wegen derselben Tat geben. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen stellt eine Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem dar.

Solche Einschränkungen erfordern eine Rechtfertigung, die den sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen genügen muss. Eine nationale Regelung, die eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zulässt, muss daher

  • eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung haben, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen,
  • klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt,
  • sicherstellen, dass die Verfahren untereinander koordiniert werden, damit die mit einer Kumulierung von Verfahren verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und
  • sicherstellen, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird.

Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Anforderungen in den vorliegenden Fällen erfüllt sind, und sich zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus einer solchen Kumulierung konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht. Die Anforderungen, denen eine etwaige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur nach dem Unionsrecht genügen muss, gewährleisten ein Schutzniveau für den Grundsatz ne bis in idem, mit dem das durch die EMRK garantierte Schutzniveau nicht verletzt wird.

+++ C-524/15 +++
Das Ziel, die Erhebung der gesamten im jeweiligen Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten, kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht bietet die nationale Regelung, die eine strafrechtliche Verfolgung auch noch nach Verhängung einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur zulässt, insbesondere die Gewähr dafür, dass die nach ihr zulässige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels zwingend erforderlich ist.

+++ C-537/16 +++
Das Ziel, die Integrität der Finanzmärkte der Union und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen, kann ebenfalls eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint jedoch die italienische Regelung zur Ahndung von Marktmanipulationen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht zu wahren. Nach dieser nationalen Regelung ist es nämlich zulässig, ein Verwaltungsverfahren strafrechtlicher Natur wegen derselben Tat durchzuführen, die bereits Gegenstand einer strafrechtlichen Verurteilung war. Die strafrechtliche Sanktion dürfte selbst bereits geeignet sein, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. Folglich ginge die Fortsetzung eines Verwaltungsverfahrens strafrechtlicher Natur wegen derselben Tat, die bereits Gegenstand einer solchen strafrechtlichen Verurteilung war, über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels des Schutzes der Märkte zwingend erforderlich ist. Diese Regelung scheint ferner keine Gewähr dafür zu bieten, dass die Gesamtheit aller Sanktionen in einem angemessen Verhältnis zur Schwere der Straftat steht.

+++ Verbundene Rechtssachen C-596/16 und C-597/16 +++
Eine solche nationale Regelung verstößt im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtskraft, dem sowohl in der Unionsrechtsordnung als auch in den nationalen Rechtsordnungen eine große Bedeutung zukommt, nicht gegen Unionsrecht. Gibt es ein rechtskräftiges freisprechendes Strafurteil, in dem festgestellt wird, dass keine Straftat vorliegt, wäre zudem die Fortsetzung eines Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur nicht mit dem Grundsatz ne bis in idem vereinbar. In einer solchen Situation ginge die Fortsetzung dieses Verfahrens nämlich offensichtlich über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die Integrität der Finanzmärkte der Union und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen, erforderlich ist.

Linkhinweis:

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 20.03.2018 11:05
Quelle: EuGH PM Nr. 34 vom 20.3.2018

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