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Die Ad-hoc-Publizität: Veröffentlichungs- oder Wissensorganisationspflicht? (Koch, AG 2019, 273)

Über Jahrzehnte hinweg führte die Ad-hoc-Publizität ein unbeachtetes Schattendasein. Die Vorgänge am Neuen Markt haben ihr größere Aufmerksamkeit gebracht, aber erst eine vor vier Jahren angestoßene Diskussion um ihr Verständnis als Wissensorganisationspflicht hat sie zu einem der zentralen Regelungskomplexe des Kapitalmarktrechts avancieren lassen. Zugleich hat sich im jüngeren Fallmaterial auch unmittelbar gezeigt, welche verborgene Sprengkraft eine so verstandene Pflicht zur Ad-hoc-Publizität entfalten kann. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden untersucht werden, ob Art. 17 Abs. 1 MMVO tatsächlich eine solche „Compliance-Dimension“ beinhaltet oder ob sich sein Regelungsgehalt nicht doch in dem erschöpft, was sein Wortlaut nahelegt: in einer Veröffentlichungspflicht.



I. Einleitung

II. Meinungsstand

1. Meinungsstand bis 2015

2. Streit um Wissenszurechnung aus dem Aufsichtsrat

3. Zweifel an den Prämissen

III. Subjektives Element in Art. 17 Abs. 1 MMVO

1. Die Grundpositionen

2. Praktische Unterschiede

3. Ungeschriebenes Wissenserfordernis

a) Wortlautanalyse

b) Systematische Brüche?

c) Kein anderes Ergebnis auf rechtsvergleichender Grundlage

4. Zwischenfazit

IV. Keine allgemeingültigen Grundsätze der Wissenszurechnung

V. Wissenszurechnung im Rahmen der Ad-hoc-Publizität

1. Das Gleichstellungsargument als Wertungskern nationaler Wissenszurechnung

2. Wortlautauslegung

3. Art. 17 Abs. 1 MMVO im systematischen Gesamtkontext

a) Mitteilungspflicht und Selbstbefreiung

b) Weitere systematische Anhaltspunkte

4. Teleologie

VI. Zusammenspiel von europäischem Tatbestand und nationalem Rechtsfolgenregime

1. Kollateralschäden der Compliance-Funktion

2. Einführung der Schadensersatzhaftung

3. Ausdehnung auf Zwischenschritte

4. Weitere Expansionstendenzen des Schrifttums

5. Das Verständnis als Wissensorganisationspflicht

6. Haftungsfolgen

7. Verbleibende Einwände

a) Keine Entschärfung durch das Verschuldenserfordernis

b) Privilegierung des nachlässig handelnden Vorstands

c) Effet utile

VII. Konsequenzen

1. Konsequenzen für das Verständnis des europäischen Tatbestands

2. Konsequenzen für das nationale Recht

VIII. Ergebnis
 

I. Einleitung

Manchmal geht die wissenschaftliche Erkenntnisfindung wundersame Wege. In den Jahren 2015–2017 war eines der großen Themen des Gesellschaftsrechts die „Wissenszurechnung im Rahmen der Ad-hoc-Publizität“, deren Einzelheiten selbst für Doppelmandate und Konzernstrukturen durchdekliniert wurden. In jüngerer Zeit wird nun aber verstärkt propagiert, dass die Ad-hoc-Pflicht gar kein Wissen des Emittenten von der offenlegungspflichtigen Insidertatsache voraussetze. Der Ad-hoc-Publizität wohne vielmehr eine „Corporate Governance-Funktion“ und eine „Compliance-Dimension“ inne, die den Emittenten verpflichteten, das Wissen innerhalb des Unternehmens so zu organisieren, dass er den Markt über sämtliche kursrelevanten Umstände informieren könne. Auch Informationen, von denen er keine Kenntnis habe, könnten deshalb nach Art. 17 Abs. 1 MMVO veröffentlichungspflichtig sein. Wenn die Ad-hoc-Publizität aber kein Wissen voraussetzt, dann bedarf es keiner Wissenszurechnung. Hat die gesellschaftsrechtliche Community also über Jahre hinweg in die falsche Richtung diskutiert oder wo liegt der Grund für diesen eigentümlichen Diskussionsverlauf?

II. Meinungsstand

1. Meinungsstand bis 2015

Der Meinungsstand zur Frage eines Wissenserfordernisses und einer etwaigen Wissenszurechnung im Rahmen der Ad-hoc-Publizität ist facettenreich und deckt nahezu jede denkbare Lesart der einschlägigen Normen ab, was darauf schließen lässt, dass die juristische Diskussion derzeit noch keinen fortgeschrittenen Reifegrad erreicht hat. Das dürfte auch darauf zurückzuführen sein, dass die Ad-hoc-Pflicht zwar bereits seit 1986 im Gesetz enthalten ist, von der Praxis aber lange Zeit nicht weiter beachtet wurde. So wird berichtet, dass von der erstmaligen Einführung dieser Pflicht in § 44a BörsG a.F. bis zur Aufhebung der Vorschrift im Jahr 1994 nur sechs Ad-hoc-Meldungen veröffentlicht wurden. Größere Verbreitung fanden Ad-hoc-Mitteilungen erst Ende der 1990er Jahre, wo sie allerdings nicht so sehr in strenger Gesetzesbefolgung veröffentlicht wurden, sondern vielmehr als Werbemittel im Rahmen der allgemeinen Börseneuphorie um den Neuen Markt zweckentfremdet wurden. Der Zusammenbruch des Neuen Marktes lenkte den Blick auf die bislang unzureichende Ausgestaltung der Ad-hoc-Publizität, die deshalb im Jahr 2002 durch eine Schadensersatzbewehrung in §§ 37b, 37c WpHG a.F. ergänzt wurde.

Auch nach Schaffung dieser Haftungsnormen hat die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehende Frage, ob der Emittent Kenntnis von dem kursrelevanten Umstand haben muss und – wenn ja – wann eine solche Kenntnis anzunehmen ist, kaum Beachtung gefunden. Tatsächlich fanden sich schon damals Stimmen, die ein Wissenserfordernis verneinten, und andere, die es ausdrücklich statuierten oder implizit voraussetzten, indem sie annahmen, das Wissenserfordernis könne über nicht näher konturierte Grundsätze der Wissenszurechnung ausgefüllt werden. Nirgends fand sich indes eine vertiefte Darstellung dieses Problems, was ein bemerkenswerter Umstand ist, wenn man bedenkt, dass gerade das Verständnis der Ad-hoc-Pflicht als Wissensorganisationspflicht ihre Tragweite um ein Vielfaches ausdehnt (ausf. dazu unter VI.). Auch zu den vielen kurserheblichen Unternehmensskandalen der letzten Jahrzehnte (Siemens-Schmiergeldskandal, Libor-Skandal, Kartellrechtsverstöße bei ThyssenKrupp etc.) finden sich im Schrifttum nirgends Hinweise darauf, dass ein Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit in einem Verstoß gegen die Ad-hoc-Pflicht habe liegen können. Es sind auch keine Entscheidungen eines Gerichts oder der BaFin bekannt, in denen eine Schadensersatzforderung oder ein behördliches Bußgeld auf den Vorwurf gestützt wurden, der Emittent hätte bei ordnungsgemäßer Organisation eine kurserhebliche Entwicklung erkennen können. Auch im Emittentenleitfaden der BaFin oder in der Kommentarliteratur wurden als Beispiele veröffentlichungspflichtiger Informationen durchgängig nur solche Sachverhalte erwähnt, die dem zuständigen Geschäftsleitungsorgan unmittelbar bekannt sind. Selbstverständlich spricht dieser Negativbefund keinesfalls gegen (...)
 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.04.2019 11:20
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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