Aktuell in der AG

Das Entsendungsrecht nach § 101 Abs. 2 AktG - ein Fall für die aktienrechtliche Mottenkiste? (Gaul, AG 2019, 405)

Die Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern hat sich zuletzt bei zwei Dax-Konzernen als problematisch erwiesen. Bei der ThyssenKrupp AG trug das Verhalten der in den Aufsichtsrat entsandten Vorsitzenden der Krupp-Stiftung Gather wesentlich dazu bei, dass der Konzern binnen weniger Tage neben dem CEO auch den Aufsichtsratsvorsitzenden verlor und ein monatelanges Führungsvakuum entstand. Bei der Volkswagen AG wachsen die Zweifel, ob die vom Land Niedersachsen in den Aufsichtsrat entsandten Politiker – Ministerpräsident Weil und Wirtschaftsminister Althusmann – die Anforderungen für die gebotene Aufklärung des Abgasskandals erfüllen. Ausgehend von diesen Beispielsfällen geht der Beitrag der Frage nach, inwiefern das in § 101 Abs. 2 AktG verankerte Entsendungsrecht zu reformieren ist.

I. Negative Erfahrungen mit dem Entsendungsrecht in der aktuellen Praxis

1. Der Fall ThyssenKrupp

2. Der Fall Volkswagen

II. Gerichtliche Auseinandersetzungen um das Entsendungsrecht

1. Aktien- und verfassungsrechtliche Aspekte

2. Europarechtliche Aspekte

a) Privatautonom von Aktionären geschaffene Entsendungsrechte unbedenklich

b) Strengerer Maßstab für Entsendungsrechte zugunsten der öffentlichen Hand?

III. Kritische Würdigung des Entsendungsrechts nach § 101 Abs. 2 AktG

1. Entstehung und Schutz des Entsendungsrechts

2. Anforderungen an den Entsandten

a) Gesetzliche Amtsvoraussetzungen

b) Persönliche Amtsvoraussetzungen

c) Gestaltungsspielräume in der Satzung

3. Pflichten des Entsandten

a) Wahrung des Unternehmensinteresses

b) Verschwiegenheitspflicht

4. Abberufung des Entsandten

a) Abberufung durch den Entsendungsberechtigten (§ 103 Abs. 2 AktG)

b) Gerichtliche Abberufung (§ 103 Abs. 3 AktG)

IV. Vorschläge zur Behebung der verbleibenden Anwendungsdefizite

1. Gewährleistung der erforderlichen Qualifikation des Entsandten

2. Ausschluss dauerhafter Interessenkonflikte des Entsandten

V. Fazit


I. Negative Erfahrungen mit dem Entsendungsrecht in der aktuellen Praxis

1. Der Fall ThyssenKrupp

Im Sommer 2018 erlebte der Traditionskonzern ThyssenKrupp nach dem Rückzug des Vorstandsvorsitzenden Hiesinger und – bald darauf – des Aufsichtsratschefs Lehner die „schwerste Krise seiner Geschichte“. Als wesentlicher Auslöser für die Führungskrise galt der fehlende Rückhalt der von der Krupp-Stiftung als größter Aktionärin (21 %) gem. § 9 Abs. 2 der ThyssenKrupp-Satzung in den Aufsichtsrat entsandten Kuratoriumsvorsitzenden Gather. Insbesondere soll die Stiftungsvertreterin bei wiederholten Angriffen des mit 18 % beteiligten Finanzinvestors Cevian auf den damaligen CEO Hiesinger geschwiegen haben. Dass Gather die Strategie Hiesingers nicht unterstützte, ist scharf kritisiert worden. Noch weiter ging der frühere DWS-Chef Strenger, der Gather als Mathematikprofessorin und Rektorin der TU Dortmund schon vor der Entsendung mangelnde Qualifikation attestierte. Auf der Hauptversammlung am 1.2.2019 legte Strenger nach und machte die Krupp-Stiftung, an deren Spitze Gather steht, nicht nur – im Zusammenwirken mit Cevian – für den Doppelrücktritt verantwortlich. Darüber hinaus betonte er unter Hinweis auf die Treupflicht gegenüber den „normalen“ Aktionären, deren Verhalten hätte dem Konzern geschadet.

Gather verwies ihrerseits als Rechtfertigung für ihr Schweigen zu ThyssenKrupp in einem Brief an das Kuratorium darauf, dass die Stiftung keine Beteiligungsgesellschaft sei, die ihr Investment am Unternehmen aktiv verwalte. Das Gemeinnützigkeitsrecht gebiete es, über die Wahrnehmung der Aktionärsrechte hinaus keinen unmittelbaren Einfluss auf das operative Geschäft der Firma zu nehmen. Mit Blick auf die daran zu erkennende „Zwitterrolle“ Gathers als Kuratoriumsvorsitzende und entsandte Aufsichtsrätin ist – zu Recht – gefragt worden, warum sie dann nicht eines der beiden Ämter niederlegt. Anlass für eine kritische Überprüfung des Entsendungsrechts bestand auch wegen der Pläne, den Konzern in zwei eigenständige Unternehmen, ThyssenKrupp Materials AG und ThyssenKrupp Industrials AG, aufzuspalten. Dabei wurde spekuliert, ob die Krupp-Stiftung im Zuge der Zweiteilung ihr Entsendungsrecht verlieren und dadurch ihren Einfluss einbüßen könnte. Auch wenn diese Aufspaltungspläne jüngst aufgegeben werden mussten, bleibt im Zuge des nunmehr angedachten (Teil-)Börsengangs der Aufzugsparte die Frage nach dem schwindenden Einfluss der Krupp-Stiftung weiterhin aktuell.

2. Der Fall Volkswagen
In § 11 Abs. 1 Satz 2 der Satzung der Volkswagen AG ist ebenfalls ein Entsendungsrecht verankert. Danach ist das Land Niedersachsen berechtigt, zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden, solange diesem unmittelbar oder mittelbar mindestens 15 % der Stammaktien der Gesellschaft gehören. Mit Blick auf die Anforderungen, die Aufsichtsratsmitglieder in global tätigen Großkonzernen erfüllen müssen, fällt bei den vom Land Niedersachsen in den VW-Aufsichtsrat entsandten Politikern – Ministerpräsident Weil und Wirtschaftsminister Althusmann – zunächst auf, dass sie keinen erkennbaren Beitrag zur Aufklärung des seit mehr als dreieinhalb Jahren bekannten Abgasskandals geleistet haben. Insbesondere haben die Landesvertreter im VW-Aufsichtsrat nicht für die nötige Transparenz in der Dieselthematik gesorgt. Als die Staatsanwaltschaft Braunschweig jüngst Anklage u.a. wegen schweren Betrugs gegen den früheren VW-CEO Winterkorn und vier weitere ehemalige Führungskräfte erhob, reagierten die beiden Politiker im VW-Aufsichtsrat ebenfalls nicht. Des Weiteren belegt der Umstand, dass Ministerpräsident Weil seine Regierungserklärung zum Abgasskandal im Vorfeld von VW umschreiben ließ, wie anfällig die Landesvertreter im VW-Aufsichtsrat für Interessenkonflikte sind. Mittlerweile hat im VW‑Konzern allerdings – zumindest teilweise – ein Umdenken eingesetzt: Im Vorfeld des ursprünglich für Ostern 2019 geplanten, inzwischen aber auf unbestimmte Zeit verschobenen Börsengangs der VW-Lkw-Tochter Traton SE soll deren CEO Renschler auf mehr Abstand zum Land Niedersachsen gedrungen haben, um Traton für Investoren attraktiver zu machen. Daher ist weder Weil noch Althusmann, sondern der Unternehmer Wolf-Michael Schmid vom Land Niedersachsen in den Traton-Aufsichtsrat entsandt worden. Ein Politiker im Aufsichtsrat hätte – so die Befürchtung – bei der Firmenbewertung zu einem ...

 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 04.06.2019 16:40
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite