Aktuell in der AG

Die Siemens AG: Rechtliche Wegmarken von der Familien- zur Publikumsgesellschaft (Fleischer, AG 2019, 481)

Der Beitrag erschließt anhand von Originalverträgen den rechtlichen Werdegang der Siemens AG von einem frühen Berliner Start-up bis zum heutigen Weltunternehmen. Er geht dabei auf zahlreiche juristische Problemstellungen ein, die sich im Verlaufe der gut 170-jährigen Unternehmensgeschichte ergeben haben, und veranschaulicht so en miniature die Vorzüge und Schwächen von Familienunternehmen. Zugleich zeigt er auf, warum Fallstudien über Familienunternehmen die gesellschaftsrechtliche Forschung ungemein bereichern können.

I. Einführung

II. Gesellschaftsgründung und Entstehung eines  Familienunternehmens

1. Gründung der Telegraphen-Bauanstalt Siemens & Halske (1847)

2. Aufnahme von Carl Siemens als Gesellschafter (1855)

3. Der Gesellschaftsvertrag von 1867: Siemens wird zum Familienunternehmen

4. Ablösung durch den Gesellschaftsvertrag von 1880

III. Entstehen einer multinationalen Unternehmensgruppe

1. Siemens als Family Multinational

2. Auslandsniederlassungen und Auslandsgesellschaften

IV. Generationen- und Rechtsformwechsel

1. Dynastisches Denken und das Vorbild der Fugger

2. Umwandlung in eine Kommanditgesellschaft (1890)

V. Öffnung zum Kapitalmarkt

1. Wachstum und Finanzierung von Familienunternehmen

2. Umwandlung in eine Aktiengesellschaft (1897)

3. Statutarische Sicherung des Familieneinflusses

4. Weitere Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg

VI. Schaffung und Abschaffung von Mehrstimmrechten

1. Satzungsmäßige Begründung (1920/1942)

2. Gesetzliche Abschaffung (1998)

VII. Listing und Delisting an der NYSE

VIII. Schlussbetrachtung


I. Einführung

„Die im Jahre 1847 als offene Handelsgesellschaft gegründete, 1889 in eine Kommanditgesellschaft und 1897 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Handelsgesellschaft Siemens & Halske führt die Firma Siemens Aktiengesellschaft und hat ihren Sitz in Berlin und München“, so lautet § 1 der aktuellen Satzung der Siemens AG. Er fängt in wenigen Worten die Historie des heutigen Weltunternehmens ein, das dereinst in einem Berliner Hinterhof entstand. Eine nähere Beschäftigung mit diesem Unternehmen und seiner Entwicklung lohnt sich nicht nur aus wirtschafts- und unternehmensgeschichtlicher Sicht. Sie verspricht auch und gerade unter gesellschaftsrechtlichen Aspekten wertvolle Einsichten, weil sein Werdegang die Vorzüge und Schwächen eines Familienunternehmens wie in einem Brennglas bündelt. Außerdem erlauben das reichhaltige Archivmaterial und die Lebensbeschreibungen der drei Brüder Werner, Wilhelm und Carl Siemens einen seltenen Blick hinter die Kulissen, der uns bei vielen Unternehmerfamilien verwehrt bleibt. Der vorliegende Beitrag richtet sein Hauptaugenmerk auf die überlieferten Gesellschaftsverträge und Satzungen sowie auf weitere Nebenabreden zwischen den Beteiligten. Er entspringt der doppelten Überzeugung, dass solche Dokumente in der rechtswissenschaftlichen Forschung bisher zu selten ausgewertet werden und dass Fallstudien über Familien(aktien)gesellschaften ein vielversprechendes Forschungsinstrument bilden.

II. Gesellschaftsgründung und Entstehung eines Familienunternehmens

1. Gründung der Telegraphen-Bauanstalt Siemens & Halske (1847)

Am Anfang stand der Zeigertelegraph. Werner von Siemens (1816–1892), der bei der preußischen Armee eine ingenieurwissenschaftliche Ausbildung genossen hatte, konstruierte ihn im Jahre 1847 mit denkbar einfachen Mitteln und schuf damit eine wesentliche Voraussetzung für den Siegeszug der Telegraphentechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die mechanische Verbesserung des Geräts überließ er dem Feinmechaniker Johann Georg Halske, den er aus der Berliner Physikalischen Gesellschaft kannte. Er überredete ihn, sich von seinem bisherigen Kompagon zu trennen und mit ihm, Siemens, eine „Telegraphen-Bauanstalt“ zu gründen. Die Gelegenheit hierfür schien ihm günstig, weil er bereits in aussichtsreichen Verhandlungen für einen Großauftrag mit der preußischen Telegraphenverwaltung stand. Das erforderliche Startkapital schoss sein reicher Vetter (Johann) Georg Siemens zu. Schnell und unbürokratisch gründeten alle drei ein Unternehmen und setzten am 1. Oktober 1847 ihre Unterschriften unter einen handgeschriebenen OHG-Vertrag: der „Mechanikus Halske“, der „Artillerielieutenant Werner Siemens“ und der „Justizrath Georg Siemens“.

Bei Vertragsschluss gab es noch keine gesetzliche Regelung für die OHG; das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) mit seiner umfassenden Kodifikation der OHG in den Artt. 85–149 sollte in Preußen erst 1861 in Kraft treten. Infolgedessen mussten die Gesellschafter alle wesentlichen Fragen selbst regeln. Ihr Vertrag umfasste insgesamt zehn Paragraphen, war übersichtlich gegliedert ...


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 02.07.2019 13:49
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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