Aktuell in der AG

Die Delegation von Aufsichtsratsmitgliedern in den Vorstand gem. § 105 Abs. 2 AktG - Ein Fremdkörper im aktienrechtlichen Corporate Governance-Gefüge? (Bulgrin/Wolf, AG 2020, 109)

In jüngster Zeit ist verstärkt zu beobachten, dass Unternehmen von der Vorschrift des § 105 Abs. 2 AktG Gebrauch machen und amtierende Aufsichtsratsmitglieder zeitweise in den Vorstand delegieren. Bislang wird dem Ausnahmecharakter der Norm sowie den mit einer Delegation einhergehenden Interessenkonflikten bei der Auslegung des § 105 Abs. 2 AktG jedoch kaum Rechnung getragen. Der Beitrag nimmt dies zum Anlass aufzuzeigen, wie sich die Norm systematisch und aus der Perspektive einer guten Corporate Governance friktionslos in das deutsche Aktienrecht einordnen lässt und entwickelt Leitlinien für ihre Anwendung in der Praxis.

I. Einleitung

II. Stellung von § 105 Abs. 2 AktG im aktienrechtlichen Corporate Governance-Gefüge

1. Durch die Delegation ausgelöste Interessenkonflikte – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat

2. § 105 Abs. 2 AktG als Fremdkörper im Corporate Governance-Gefüge?

III. Konsequenzen für die Auslegung des § 105 Abs. 2 AktG

1. Tatbestand des § 105 Abs. 2 AktG

a) Fehlen oder Verhinderung eines Vorstandsmitglieds

aa) Fehlen eines Vorstandsmitglieds

bb) Verhinderung eines Vorstandsmitglieds

cc) Grad des Nachweises

dd) Anwendung der Norm in Konzernkonstellationen

b) Zeitliche Begrenzung auf ein Jahr

2. Rechtsfolge des § 105 Abs. 2 AktG

a) Rechtsfolge bei Nicht-Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen

aa) Anwendung der Lehre vom fehlerhaften Organ

bb) Potentielle Schadensersatzpflicht des Aufsichtsrats

b) Rechtsfolge bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen

aa) Ermessen des Aufsichtsrats

(1) Entscheidung über die Vornahme der Delegation („Ob“)

(2) Entscheidung über die Befristung der Delegation („Wie“)

(3) Beschlussunfähigkeit des Aufsichtsrats infolge der Delegation

bb) Erforderlichkeit eines Bestellungsbeschlusses

IV. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse


I. Einleitung

1
In der Praxis ist die Delegation von Aufsichtsratsmitgliedern in den Vorstand gem. § 105 Abs. 2 AktG jüngst wieder in Mode gekommen. Innerhalb kürzester Zeit wurden zunächst die ehemalige Vorsitzende des Aufsichtsrats Vanessa Hall zur vorübergehenden Vorstandsvorsitzenden der Vapiano SE sowie die ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Martina Merz zur vorübergehenden Vorstandsvorsitzenden der thyssenkrupp AG bestellt. Auch die CECONOMY AG hat kurz darauf das Aufsichtsratsmitglied Bernhard Düttmann vorübergehend zum Vorstandsvorsitzenden bestellt. Der vorliegende Beitrag nimmt die zunehmende Praxisrelevanz der Delegation zum Anlass, die Möglichkeit des vorübergehenden Wechsels vom Aufsichtsrat in den Vorstand im Lichte einer guten Corporate Governance kritisch zu überprüfen. Wie zu zeigen sein wird, führt das derzeit im aktienrechtlichen Schrifttum vorherrschende extensive Verständnis der Norm dazu, dass diese sich als Fremdkörper im aktienrechtlichen Corporate Governance-Gefüge erweist. Im nachfolgenden Beitrag sollen daher Auslegungsmaßstäbe entwickelt werden, welche sowohl in systematischer Hinsicht, aber auch aus der Perspektive einer guten Corporate Governance, eine friktionslose Einordnung der Vorschrift ins deutsche Aktienrecht ermöglichen und Leitlinien für die zukünftige Anwendung der Norm in der Praxis bilden können. Hierzu wird zunächst die systematische Stellung der Norm im aktienrechtlichen Corporate Governance-Gefüge näher untersucht (unter II.), bevor auf die einzelnen Tatbestandsvoraussetzungen der Norm sowie deren Rechtsfolgenseite näher eingegangen wird (unter III.). Abschließend werden die Ergebnisse thesenartig zusammengefasst (unter IV.).

II. Stellung von § 105 Abs. 2 AktG im aktienrechtlichen Corporate Governance-Gefüge
2
§ 105 Abs. 2 AktG regelt eine Ausnahme vom Grundsatz des § 105 Abs. 1 AktG, wonach Aufsichtsrats- und Vorstandsmitgliedschaft inkompatibel sind. Um besonderen Ausnahmefällen Rechnung tragen zu können, ermöglicht es der Gesetzgeber dennoch, einzelne Aufsichtsratsmitglieder zeitlich befristet in den Vorstand zu delegieren. Allein der Charakter als Ausnahmevorschrift macht die Norm noch nicht zu einem Fremdkörper im Corporate Governance-Gefüge der Aktiengesellschaft. Als Fremdkörper ist die Norm vielmehr erst dadurch einzuordnen, dass nach derzeit verbreiteter Auslegung bei Vorliegen der (häufig extensiv interpretierten) Tatbestandsvoraussetzungen das Interesse an der kurzfristigen Beseitigung einer Vakanz im Vorstand das Interesse an einer Vermeidung von Interessenkonflikten generell überwiegt. Wie zu zeigen sein wird, ist ein derartiges Verständnis weder mit den heutigen Maßstäben guter Corporate Governance noch mit der systematischen Stellung der Vorschrift im AktG vereinbar.

1. Durch die Delegation ausgelöste Interessenkonflikte – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat
3
Bis vor wenigen Jahren wurde den mit einem Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat verbundenen Interessenkonflikten kaum Bedeutung beigemessen. Erst recht galt dies für den umgekehrten, von § 105 Abs. 2 AktG geregelten Fall des zeitweisen Wechsels vom Aufsichtsrat in den Vorstand. Für den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat ist seit der Jahrtausendwende jedoch ein erheblicher Anschauungswandel festzustellen. Dieser spiegelt sich mittlerweile auch im Gesetz wider, wo der 2009 durch das VorstAG eingefügte § 100 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AktG seit 2009 für den Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat börsennotierter Gesellschaften jedenfalls im Grundsatz eine zweijährige Cooling Off-Periode statuiert. Darüber hinaus sieht der rechtlich zwar nicht verbindliche, aber vom Gesetz (vgl. § 161 AktG) und der Rechtspraxis dennoch als bedeutsam anerkannte DCGK in seiner neuen Fassung vor, dass nicht mehr als zwei ehemalige Vorstandsmitglieder dem Aufsichtsrat angehören sollen. Des Weiteren ist die vorherige Zugehörigkeit zum Vorstand ein Kriterium, welches im Rahmen der Bewertung der Unabhängigkeit der Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat von Bedeutung ist.

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Auch wenn die rechtspolitische Berechtigung der Cooling Off-Periode umstritten ist, besteht doch Konsens darüber, dass ein Wechsel vom Vorstand in den Aufsichtsrat problematische Interessenkonflikte mit sich bringt, deren Nachteile bei der Bestellung ehemaliger Vorstände zu Aufsichtsratsmitgliedern gegen etwaige Vorteile aufgrund besonderer Sachkunde und Erfahrung abgewogen werden müssen. Im Lichte dessen überrascht es, dass ...
 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.02.2020 16:08
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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