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Die Europäische Whistleblower-Richtlinie und ihre Folgen für das deutsche Gesellschaftsrecht (Gerdemann/Spindler, ZIP 2020, 1896)

Am 16. 12. 2019 ist die „Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. 10. 2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“ in Kraft getreten, deren Vorgaben im Wesentlichen bis zum 17. 12. 2021 in deutsches Recht umzusetzen sind (ABl L 305 v. 26. 11. 2019, 17; im Folgenden: Whistleblower-Richtlinie; WBRL). Sowohl vor als auch nach ihrer Verabschiedung ist die Richtlinie innerhalb und außerhalb Deutschlands zum Gegenstand intensiver Debatten avanciert. Das rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Echo ist insofern kaum überraschend, handelt es sich bei der Richtlinie doch um den bisher mit Abstand einflussreichsten Rechtsakt der Europäischen Union auf dem Gebiet des Whistleblowing-Rechts. Die nationale Umsetzung wird dementsprechend mit signifikanten Folgen für eine Vielzahl unterschiedlicher Rechtsgebiete einhergehen. Das gilt insbesondere für das deutsche Recht, dem eine umfassende Regulierung des Phänomens „Whistleblowing“ im Gegensatz zu einer zunehmenden Zahl internationaler Rechtsordnungen bislang noch fremd ist. Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die zu erwartenden Konsequenzen der Richtlinie für das deutsche Gesellschaftsrecht und greift hierbei insbesondere einige Aspekte auf, die in der aktuellen Diskussion bisher noch vergleichsweise wenig Beachtung gefunden haben.

I. Ziel, Anwendungsbereich und Regulierungsfelder der Richtlinie

II. Auswirkung auf organschaftliche Verschwiegenheitspflichten

1. Whistleblowing und Verschwiegenheitspflichten nach deutschem Gesellschaftsrecht

1.1 Rechtsgrund

1.2 Inhalt

2. Vorgaben und Konsequenzen der Richtlinie

2.1 Erfasste Personen und Verhaltensweisen

2.2 Subjektive Voraussetzungen

2.3 Unmittelbares Whistleblowing an Behörden

2.4 Konzernweites Whistleblowing

2.5 Offenlegungen

2.6 Verbot von Repressalien und Rechtsfolgen

III. Auswirkungen auf Compliance-Pflichten

1. Whistleblowing und Compliance-Pflichten nach deutschem Gesellschaftsrecht

1.1 Rechtsgrund

1.2 Inhalt

2. Vorgaben und Konsequenzen der Richtlinie

2.1 Normadressaten

2.2 Inhaltliche Vorgaben

2.3 Konzernweite Whistleblowing-Stellen

2.4 Bedeutung für Compliance-Pflichten

IV. Der Umsetzungsprozess – Ein Ausblick


I. Ziel, Anwendungsbereich und Regulierungsfelder der Richtlinie

Zentrales Ziel der Whistleblower-Richtlinie ist es, den Schutz von Whistleblowern ebenso wie die institutionellen Rahmenbedingungen des Whistleblowings in der Europäischen Union zu harmonisieren und inhaltlich zu optimieren, um Verstöße gegen das Unionsrecht im öffentlichen Interesse effektiv aufzudecken und zu unterbinden und hierdurch die Durchsetzung des Unionsrechts insgesamt zu verbessern. Aus diesem erklärten Ziel und den entsprechenden Regulierungskompetenzen der Europäischen Union ergibt sich zugleich der sachliche Anwendungsbereich der eingesetzten Regulierungsinstrumente: Erfasst sind sämtliche Informationen über Verstöße, die in den Anwendungsbereich der enumerativ aufgelisteten Rechtsakte und primärrechtlichen Normen der Europäischen Union fallen, einschließlich der insoweit einschlägigen nationalen Umsetzungsnormen. Dies betrifft eine große Bandbreite wesentlicher Regulierungsfelder des Unionsrechts, namentlich etwa das Wettbewerbs-, Beihilfen- und Körperschaftssteuerrecht, die Regulierung des Finanzdienstleistungssektors, das Produktsicherheits- und Verbraucherschutzrecht sowie das Datenschutzrecht. Neben bereits begangenen Verstößen gegen die aufgelisteten Rechtsnormen und etwaige Umsetzungsnormen bezieht die Richtlinie zudem Informationen über zukünftige Verstöße, die sehr wahrscheinlich erfolgen werden, in ihren sachlichen Anwendungsbereich mit ein. Gleiches gilt für Informationen über rechtsmissbräuchliche Verhaltensweisen, die dem Ziel oder Zweck der erfassten Rechtsnormen zuwiderlaufen.

Die ineinandergreifenden Regulierungsinstrumente, denen sich die Richtlinie zur Verwirklichung ihrer Ziele bedient, lassen sich – cum grano salis – in vier Gruppen einteilen. Zum Ersten gibt die Richtlinie die Einführung eines anti-diskriminierungsrechtlichen Whistleblower-Schutzes vor, durch den Personen, die Informationen im Anwendungsbereich der Richtlinie weitergeben, vor Repressalien jeglicher Art umfassend geschützt werden sollen. Zum Zweiten sollen juristische Personen des privaten und öffentlichen Sektors verpflichtet werden, interne Meldekanäle zur Entgegennahme und Weiterverfolgung von Verstoßinformationen einzurichten, um Whistleblowern einen geeigneten internen Adressaten und Untersuchungsverantwortlichen zur Seite zu stellen. Zum Dritten werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, externe Meldekanäle einzurichten, als deren Adressaten spezialisierte Whistleblowing-Behörden bzw. -Behördenteile fungieren sollen, um die Rolle professionalisierter administrativer Brückenköpfe zwischen Whistleblower und staatlichen Ermittlungsbehörden einzunehmen. Zu guter Letzt verlangt die WBRL die Einführung eines Whistleblowing-spezifischen Sanktionsrechts für natürliche und juristische Personen, insbesondere zur Ahndung rechtswidrig veranlasster Repressalien.

Während alle vier Regulierungsinstrumente ihre Spuren in der unternehmensrechtlichen Praxis hinterlassen werden, sind es vor allem die Instrumente der ersten und zweiten Gruppe, die sich unmittelbar auf rechtliche Kernelemente des deutschen Gesellschaftsrechts auswirken werden. Konkret betrifft dies einige bislang tragende Grundprinzipien der organschaftlichen Verschwiegenheitspflichten (hierzu unter II) und die inhaltliche Ausgestaltung der in den letzten Jahren intensiv diskutierten Compliance-Pflichten (hierzu unter III).

II. Auswirkung auf organschaftliche Verschwiegenheitspflichten
1. Whistleblowing und Verschwiegenheitspflichten nach deutschem Gesellschaftsrecht
1.1 Rechtsgrund

Die Pflichten zur Verschwiegenheit sind seit jeher fester Bestandteil des deutschen Gesellschaftsrechts und zählen zu den Grundpfeilern des Pflichtenkanons von Organmitgliedern. Entsprechend veränderungsresistent waren bislang ihre wesentlichen Leitlinien und Vorgaben, ohne Unterschied woher die Organmitglieder stammen, ob sie im Rahmen der Mitbestimmung Arbeitnehmervertreter sind oder ob sie von Konzernunternehmen stammen. Für Vorstände normierte bereits das AktG von 1937 die Verschwiegenheitspflicht als Teil der Treuepflicht; im heutigen § 93 Abs. 1 Satz 3 AktG wird sie dahingehend konkretisiert, dass Vorstandsmitglieder über vertrauliche Angaben und Geheimnisse der Gesellschaft, die ihnen durch ihre Tätigkeit im Vorstand bekannt geworden sind, Stillschweigen zu bewahren haben. Die Verschwiegenheitspflicht der Aufsichtsratsmitglieder wurde durch das TransPublG von 2002 in § 116 Satz 2 AktG noch einmal besonders hervorgehoben, bestätigte hierdurch aber im Wesentlichen nur den zuvor schon geltenden Rechtsstand. Nichts anderes gilt – auch ohne ausdrückliche Nennung im Gesetz – für die Leitungs- und Überwachungsorgane anderer Gesellschaftsformen wie beispielsweise die Geschäftsführer einer GmbH oder die Mitglieder von GmbH-Aufsichtsräten. Die Kernanliegen der strikten Verschwiegenheitspflichten liegen vor allem in der Wahrung der berechtigten Geheimhaltungsinteressen der Gesellschaft und

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 30.09.2020 11:23
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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