Aktuell in der AG
Leitungsverantwortung des Vorstands und Delegation (Kuntz, AG 2020, 801)§ 76 Abs. 1 AktG schreibt dem Vorstand die Aufgabe zu, die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Die h.M. differenziert hieran anknüpfend zwischen Leitungsaufgaben und bloßen Geschäftsführungsaufgaben. Anders als letztere seien Leitungsaufgaben nicht delegierbar. Der Beitrag geht von der These aus, dass ein solches Delegationsverbot nicht existiert. Für die Aufrechterhaltung von Leitungsverantwortung genügt es, die dem Grundsatz nach stets zulässige Delegation an ein ausreichend gehaltvolles Pflichtenprogramm zu knüpfen. Einer besonderen Kategorie der „Leitung“ im Unterschied zur Geschäftsführung bedarf es nicht.
I. Einleitung
II. Zwei einführende Beispiele
1. Baustoffkonzern
2. Immobilienverwaltung
III. Leitungsverantwortung: Begriff, Funktionen, zwingende Wirkung
1. Zum Begriff der Leitungsverantwortung
a) Leitungsverantwortung ex ante und ex post
aa) Leitungsverantwortung ex ante
bb) Leitungsverantwortung ex post
b) Leitungsverantwortung als zwingendes Pflichtrecht
2. Leitungsverantwortung: Funktionen und zwingender Charakter
a) Leitungsverantwortung: Funktionen
aa) Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesellschaft
bb) Schutz des Marktes
b) Begründung des Zwangscharakters der Leitungsverantwortung
IV. Das Delegationsverbot nach h.M. und seine Defizite
1. Aufgabenbezogener Ansatz
a) Ausgangspunkt: Keine Delegation von Leitungsaufgaben
b) Problem: Unklare Reichweite des Aufgabenbegriffs
c) Keine Abgrenzbarkeit nach Außergewöhnlichkeit
2. Entscheidungsbezogener Ansatz
a) Führungsentscheidungen als besonders bedeutsame Entscheidungen
b) (Un-)Trennbarkeit von Entscheidungen und Entscheidungsverfahren
aa) Ausgangsproblem: Entscheidungen als Verfahrensbestandteil
bb) Fehlende Eignung formaler Anknüpfungspunkte
V. Leitungsverantwortung und Delegation: Ein Neuansatz
1. Ausgangspunkte: Delegationspflicht und Erhaltung von Leitungsverantwortung unter Unsicherheit
a) Delegationspflicht des Vorstands als Ausdruck von Leitungsverantwortung
b) Ansatzpunkt: Erhaltung von Leitungsverantwortung unter Unsicherheit
aa) Unsicherheit als Regulierungsproblem
bb) Reversibilität und Kontrollierbarkeit als Kernelemente rechtmäßiger Delegation
cc) Rechtsvergleichende Bestätigung: Die duty to supervise, direct and control
2. Voraussetzungen rechtmäßiger Delegation
a) Delegation und ex ante-Verantwortung
aa) Aufgabengestaltung
(1) Aufgabenbeschreibung ex ante
(2) Anpassung der Aufgabengestaltung durch Weisung
bb) Zuweisung von Aufgabenzuständigkeit
(1) Zuständigkeitsbeschreibung ex ante
(2) Anpassung und Beendigung von Zuständigkeiten: Weisung und Kündigung
cc) Informationsrechte und Berichtspflichten
b) Delegation und ex post-Verantwortung
aa) Rechenschaftspflichten
bb) Haftung
c) Verhältnis der Delegationsbedingungen zueinander
d) (Kein) Sonderfall: Compliance
3. Rechtsfolgen rechtswidriger Delegation
a) Grundsatz: Schadensersatzpflicht
b) Ausnahme: Unwirksamkeit bei unmittelbaren Eingriffen in Kompetenzen anderer Organe
4. Ein Einwand: Auch unklare Grenzen sind taugliche Grenzen
VI. Wesentliche Ergebnisse
I. Einleitung
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Das Aktiengesetz schreibt dem Vorstand seit der Novelle 1937 die Aufgabe zu, die Gesellschaft unter eigener Verantwortung zu leiten. Der heutige § 76 Abs. 1 AktG enthält eine der zentralen Kompetenzvorschriften und ist Teil einer Normentrias, welche die Aktiengesellschaft prägt: § 111 Abs. 4 Satz 1 AktG schließt aus, Geschäftsführungsaufgaben auf den Aufsichtsrat zu übertragen. Nach § 119 Abs. 2 AktG kann die Hauptversammlung über Geschäftsführungsaufgaben nur entscheiden, wenn der Vorstand es verlangt. Der Vorstand hat nicht nur das Recht, sondern nach der Kompetenzordnung des Aktiengesetzes außerdem die nicht abdingbare Pflicht zur Leitung.
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Nach ganz herrschender Meinung geht es bei der Leitung der AG um die Führungsfunktion des Vorstands. Leitung sei ein herausgehobener Teilbereich der Geschäftsführung. In einer begriffsjuristischen Strategie bemühen sich nicht wenige, aus der unterschiedlichen Formulierung von § 76 Abs. 1 AktG und § 77 Abs. 1 AktG eine Differenz von Leitung und Geschäftsführung zu etablieren, obwohl schon ein Blick auf § 111 Abs. 1 AktG belegt, auf welch brüchiger Grundlage sie beruht. Dennoch folgern die Vertreter der überwiegenden Ansicht aus der Unterscheidung das Verbot, Leitungs- oder Führungsaufgaben zu delegieren. Darin liege ein wesentlicher Unterschied zu Geschäftsführungsaufgaben, die der Vorstand durchaus auf andere übertragen dürfe. Eine so vorgenommene Abgrenzung von Geschäftsführung und Leitung hat erhebliche Bedeutung: Überträgt der Vorstand entgegen dem Delegationsverbot Leitungsaufgaben oder -entscheidungen auf in der Unternehmenshierarchie nachgeordnete oder gesellschaftsexterne Personen, handelt er außerhalb der aktienrechtlichen Zuständigkeitsordnung. Die Maßnahme ist damit nicht nur pflichtwidrig i.S.v. § 93 Abs. 1 AktG, sondern außerdem unwirksam.
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Klarheit über die Grenzen der beiden Bereiche Leitung und Geschäftsführung zu gewinnen, ist damit nicht nur dogmatisch wichtig, sondern auch praktisch höchst bedeutsam. Denn angesichts der Komplexität der vom Vorstand bei der Unternehmensführung zu bewältigenden Aufgaben und vielschichtiger Entscheidungsprozesse bedarf es leistungsfähiger Kriterien, um eine ordnungsgemäße Unternehmensorganisation einzurichten. Es ist in einer modernen Wirtschaft schlicht unmöglich, dem Vorstand sämtliche Entscheidungen aufzubürden und Delegationschancen zu beschneiden. Das hinderte nicht nur die Einrichtung internationalem Standard entsprechender Corporate Governance-Strukturen, sondern setzte dem wirtschaftlichen Wachstum indirekt rechtliche Schranken, weil ab einer gewissen Größe kein Vorstand mehr tätig sein kann, ohne Aufgaben in weitem Umfang auf Dritte zu übertragen. Umso misslicher ist es, was gewichtige Stimmen in der aktienrechtlichen Literatur konstatieren:
„Subsumtionsfähige Kriterien für Unterscheidung zwischen Leitung und Geschäftsführung gibt es nicht. [Die] Unterscheidung wird zumeist mehr von Rechtsfolgenseite denn von Tatbestandsseite formuliert, was fortdauernde Schwierigkeiten im Umgang mit [der] Abgrenzung [...] illustriert.“
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Ähnliche Stellungnahmen finden sich zuhauf. Herkömmlichen Definitionsversuchen liegt gelegentlich nicht weniger als eine petitio principii zugrunde, sofern sie Leitungsaufgaben als solche definieren, die nicht delegierbar seien, umgekehrt aber für nicht delegationsfähig befinden, was unter den Begriff der Leitungsaufgabe falle. Auch der Begriff der Leitungsverantwortung ist weitgehend konturlos.
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Diesem Beitrag liegt die These zugrunde, dass es kein Delegationsverbot gibt, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie es die h.M. versteht. Einer besonderen Kategorie von „Leitung“, die außerhalb der regulären Geschäftsführung angesiedelt ist, bedarf es entgegen der h.M. nicht. Das maßgebliche Regulierungsziel lässt sich dadurch erreichen, dass ...