Aktuell in der ZIP

Der insolvenzrechtliche Rang von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen gegen den Emittenten (Thole, ZIP 2020, 2533)

Die insolvenzrechtliche Einordnung von kapitalmarktrechtlichen Ansprüchen von Aktionären gegen den Emittenten der Aktie ist – erstaunlicherweise – bisher nicht höchstrichterlich entschieden. Das betrifft insbesondere Ansprüche gem. §§ 97, 98 WpHG, aber auch Ansprüche aus § 826 BGB, soweit sie sich auf die in der Fehlinformation des Kapitalmarkts liegende oder damit verbundene sittenwidrige Schädigung stützen. Der Beitrag geht der offenen Frage nach.

I. Anspruchsgrundlagen

II. Insolvenzrechtliche Ausgangslage

III. Meinungsstand

1. Rechtsprechung

1.1 Das Urteil des II. Zivilsenats des BGH v. 9. 5. 2005

1.2 Hinweise in der Rechtsprechung des Reichsgerichts

1.3 Weitere Hinweise in der Rechtsprechung

1.4 Zwischenergebnis

2. Literatur

2.1 Äußerungen zugunsten der Einordnung als Insolvenzforderung

2.1.1 Auffassung von Becker

2.1.2 Auffassung von Zimmer

2.1.3 Auffassung von Gundlach/Frenzel/Schmidt

2.2 Äußerungen gegen eine Einordnung als gewöhnliche Insolvenzforderung

2.2.1 Auffassung von Langenbucher

2.2.2 Auffassung von Baums

2.2.3 Auffassung von Kalss

2.2.4 Weitere Stellungnahmen im Schrifttum

2.3 Zwischenergebnis

IV. Würdigung der in Rechtsprechung und Literatur geltend gemachten Argumente

1. Aus § 57 AktG folgt nichts für die insolvenzrechtliche Einordnung

2. Die Argumentation von Becker ist nicht überzeugend

3. Aktionär ist nicht nur „zufällig“ Käufer oder Verkäufer

4. Keine Treuwidrigkeit

5. Fehlende gesetzgeberische Festlegung?

6. Keine Einordnung unter § 38 InsO wegen des Ursprungs im „Verkehrsrecht“

7. Verselbstständigung als gesetzlicher Anspruch unbeachtlich

8. Fehlende Verkehrsfähigkeit bei möglicher Nach-Nachrangigkeit?

V. Das entscheidende Wertungsproblem

1. Die Abgrenzung von Insolvenzforderungen und mitgliedschaftlichen Ansprüchen

2. Steht der Aktionär wie ein außenstehender Dritter da oder ist die Mitgliedschaft betroffen?

2.1 Schadensersatzansprüche von Aktionären gehören zu § 199 InsO

2.2 Zwischenergebnis

3. Fehlende Praktikabilität wegen notwendiger Differenzierungen innerhalb von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen?

VI. Fazit


I. Anspruchsgrundlagen

Als mögliche Ansprüche von (ggf. früheren) Aktionären, die sich aus der Fehlinformation des Kapitalmarkts ergeben, kommen insbesondere Ansprüche aus §§ 97, 98 WpHG (bzw. vor dem 3. 1. 2018 aus §§ 37b, 37c WpHG a. F.) wegen der unterlassenen oder fehlerhaften Veröffentlichung von Insiderinformationen sowie Ansprüche aus § 826 BGB i. V. m. § 31 BGB wegen vorsätzlich sittenwidriger Schädigung in Betracht. Die Rechtsprechung erkennt an, dass die Haftung nach § 826 BGB neben einer Haftung gem. §§ 97, 98 WpHG auch insoweit bestehen kann, als sie sich gegen den Emittenten selbst richtet.

Für beide Anspruchsgrundlagen gilt, dass der Anspruch in seiner Rechtsfolge sowohl auf Naturalrestitution in Gestalt einer Rückerstattung des Erwerbspreises gegen Übertragung der erworbenen Finanzinstrumente als auch auf Zahlung des sog. Kursdifferenzschadens gerichtet sein kann.

Denkbar erscheinen darüber hinaus auch deliktische Ansprüche gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. einem Schutzgesetz. Als Schutzgesetz kommen ggf. die Vorschriften des § 331 HGB sowie des § 400 AktG in Betracht, die, soweit ihre Voraussetzungen vorliegen, in ihrem jeweiligen Schutzbereich auch den Aktionär erfassen. Zugleich erscheint eine Zurechnung des Tatverhaltens der in den Vorschriften als mögliche Täter genannten Organmitglieder zu Lasten der Gesellschaft (= Emittent) über § 31 BGB möglich, da die Erstellung der Bilanzen zu dem den Organmitgliedern übertragenen Aufgabenkreis gehört.

Im Einzelfall kann auch eine Haftung gem. § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266 StGB oder § 263 StGB in Betracht kommen. Soweit es § 266 StGB betrifft, ist tauglicher Täter nur die vermögensbetreuungspflichtige Person (Organe). Eine Zurechnung des Delikts zu Lasten der Aktiengesellschaft, deren Vermögensinteressen es gerade wahrzunehmen gilt, würde indessen diesen Schutzzweck verfehlen. Denn auf diese Weise würde die Gesellschaft gerade ersatzpflichtig gegenüber den Aktionären, obwohl sie von § 266 StGB selbst geschützt wird. Insbesondere ist auch fraglich, ob das Schutzgesetz auch zugunsten der Aktionäre der Gesellschaft besteht. Das ist in Übereinstimmung mit dem LG Wiesbaden zu verneinen.

Eine Verletzung des in § 263 StGB liegenden Schutzgesetzes ist regelmäßig schwer darzulegen, wenn und weil es an der Absicht einer „stoffgleichen“ Bereicherung fehlt. Vorausgesetzt ist, dass die angestrebte Bereicherung stoffgleich mit den vom Geschädigten erlittenen Vermögensnachteil ist. Daran fehlt es, wenn die Gesellschaft nicht einen Vorteil erstrebt hat, der spiegelbildlich einen Nachteil beim Geschädigten bedeutet. Aus einem etwaigen zu teuren Erwerb der Aktie oder dem zu günstigen Verkauf auf dem Sekundärmarkt, d. h. an der Börse, ergibt sich nicht unmittelbar ein korrespondierender, beabsichtigter Vorteil für die Aktiengesellschaft oder einen Dritten.

Die weitere Untersuchung kann sich vor diesem Hintergrund auf die Ansprüche aus §§ 97, 98 WpHG einerseits sowie aus § 826 BGB in der Fallgruppe der Kapitalmarktinformationshaftung andererseits konzentrieren. Soweit im Folgenden von kapitalmarktrechtlichen Schadensersatzansprüchen die Rede ist, ist darunter also auch § 826 BGB zu verstehen, der zwar eine allgemeine Deliktsnorm darstellt, indes in den typischen Fallgestaltungen auf die Fehlinformation des Kapitalmarkts zu stützen wäre.

II. Insolvenzrechtliche Ausgangslage
Das Insolvenzrecht geht grundsätzlich davon aus, dass persönliche Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben, Insolvenzgläubiger i. S. d. § 38 InsO sind. Die „Begründetheit“ des Anspruchs richtet sich nach insolvenzrechtlichen Maßstäben, stimmt aber im Wesentlichen mit den zivilrechtlichen Vorgaben überein. Danach kommt es darauf an, ob die schuldrechtliche Grundlage des Anspruchs zeitlich vor der Verfahrenseröffnung gelegt worden ist. § 39 InsO enthält aus unterschiedlichen Wertungsgründen eine Abstufung innerhalb dieser Gruppe der Insolvenzforderungen. Entstehen Ansprüche erst nach Verfahrenseröffnung, handelt sich entweder um Masseverbindlichkeiten (§§ 54, 55 InsO) oder ausnahmsweise um ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 06.01.2021 10:13
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite