Aktuell in der AG

Die Anwendung der Business Judgement Rule im Rahmen der vertikalen Delegation (Zenner, AG 2021, 502)

Vorstände der Aktiengesellschaften treffen nicht alle unternehmerischen Entscheidungen selbst, sondern delegieren die Aufgaben auf Unternehmensmitarbeiter. Der Beitrag arbeitet heraus, unter welchen Voraussetzungen sich Delegationsempfänger und Vorstandsmitglieder im Rahmen der vertikalen Delegation auf die Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) berufen dürfen.

I. Problemaufriss
1. Die Grundsätze der Business Judgement Rule
2. Vertikale Delegation von Vorstandsaufgaben
3. Offene Fragen im Zusammenhang mit der  Business Judgement Rule bei delegierten  unternehmerischen Entscheidungen
II. Anwendung der Business Judgement Rule auf nachgeordneten Unternehmensebenen
1. Anwendbarkeit der Business Judgement Rule auf die Entscheidungsfindung von Delegationsempfängern
2. Besonderheiten bei der Einhaltung der Vorgaben der Business Judgement Rule durch Delegationsempfänger
a) Keine Haftungsentlastung bei Entscheidungen  außerhalb des Delegationsbereichs
b) Einhaltung von Weisungen und Vorgaben
c) Interessenkonflikte
aa) Interessenkonflikte des Delegationsempfängers
bb) „Infektion nach unten“
3. Ergebnis
III. Anwendung der Business Judgement Rule bei der Überwachung delegierter unternehmerischer  Entscheidungen durch den Vorstand
1. Allgemeine Grundsätze der Überwachung  delegierter Aufgaben
2. Besonderheiten bezüglich der Überwachungspflicht im Fall von delegierten unternehmerischen Entscheidungen
3. Besonderheiten für die Einhaltung der Business Judgement Rule im Rahmen der Überwachung von delegierten unternehmerischen Entscheidungen
a) Einhaltung der Legalitätspflicht
b) Handeln auf angemessener Informationsgrundlage
c) Handeln ohne Interessenkonflikte und frei von sachfremden Einflüssen
d) Handeln zum Wohle der Gesellschaft
4. Ergebnis
IV. Gesamtergebnis


I. Problemaufriss

1. Die Grundsätze der Business Judgement Rule

1
Der Vorstand der Aktiengesellschaft ist für die Leitung und Geschäftsführung der Gesellschaft verantwortlich (§§ 76, 77 AktG). Dabei müssen seine Mitglieder gem. § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters einhalten, der nicht mit eigenen Mitteln wirtschaftet, sondern vergleichbar einem Treuhänder fremden Vermögensinteressen verpflichtet ist.  Halten sie diese Sorgfalt nicht ein, müssen sie gem. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG der Gesellschaft gegenüber für darauf beruhende Schäden haften, wobei sie gem. § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG die Beweislast dafür trifft, sorgfältig gehandelt zu haben. Im Rahmen der Leitung und Geschäftsführung trifft der Vorstand unausweichlich zahlreiche geschäftliche Entscheidungen und geht dabei unternehmerische Risiken ein, deren Ausgang bei Entscheidungsfindung noch nicht sicher feststehen, sondern einer Prognose in die Zukunft bedürfen (sog. „unternehmerische Entscheidungen“). Dies bedingt die – auch für den gewissenhaftesten Geschäftsleiter – unvermeidbare Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen, die letztlich zu einem geschäftlichen Misserfolg führen können. Es besteht Einigkeit, dass dieses Risiko von den Vorstandsmitgliedern nicht getragen werden muss, da anderenfalls die Gefahr besteht, dass sie aus Sorge vor einer persönlichen Haftung – entgegen den Interessen der Aktionäre, der sonstigen Stakeholder sowie der Allgemeinheit – übermäßig risikoavers handeln würden.  Deswegen müssen Vorstandsmitglieder gem. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG nicht haften (sog. „Haftungsfreiraum“ oder „Safe Harbour“), wenn sie im Rahmen von unternehmerischen Entscheidungen vernünftigerweise annehmen dürfen, auf der Grundlage angemessener Informationen und zum Wohle der Gesellschaft zu handeln (sog. „Business Judgement Rule“).

2
Von unternehmerischen Entscheidungen sind rechtlich gebundene Entscheidungen abzugrenzen. Diese Entscheidungen sind durch gesetzliche Handlungspflichten gekennzeichnet und räumen dem Vorstand kein Ermessen ein. Der Haftungsfreiraum der Business Judgement Rule gilt für diese Entscheidungen nicht, weil der Vorstand (selbstverständlich) verpflichtet ist, sämtliche gesetzlichen und satzungsmäßigen Vorgaben einzuhalten (Legalitätspflicht).  Schließlich besteht Einigkeit, dass sich Vorstandsmitglieder nur dann auf die Business Judgement Rule berufen dürfen, wenn sie sich frei von Interessenkonflikten und sachfremden Einflüssen wähnen dürfen.

2. Vertikale Delegation von Vorstandsaufgaben
3
Aktiengesellschaft sind typischerweise Großunternehmen mit zahlreichen Mitarbeitern. In solchen Unternehmen ist es dem Vorstand nicht möglich, sämtliche Entscheidungen der Gesellschaft persönlich zu treffen. Er ist daher – neben der Aufteilung seiner Aufgaben unter den Vorstandsmitgliedern (sog. horizontale Delegation ) – auf eine umfassende Delegation seiner Aufgaben auf nachgeordnete $S$Unternehmensebenen angewiesen (sog. vertikale Delegation). Eine vertikale Delegation ist rechtlich zulässig, soweit nicht der unentziehbare Kern der Leitungsverantwortung des Vorstands (§ 76 AktG) betroffen ist. Die zulässige Delegation einer Vorstandsaufgabe auf nachgeordnete Unternehmensebenen entbindet den Vorstand allerdings nicht von seinen Sorgfaltspflichten.  Stattdessen wandelt sich seine Pflicht zur eigenhändigen Vornahme der entsprechenden Maßnahmen („Durchführungsverantwortung“) in die Pflicht, den oder die Delegationsempfänger sorgfältig auszuwählen, einzuweisen und zu überwachen („Überwachungsverantwortung“).

4
Bei den Entscheidungen über die Delegation der zu treffenden Maßnahme(n) und die Auswahl der jeweiligen Delegationsempfänger handelt es sich ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 13.07.2021 08:57
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite