EuGH, C-128/20 u.a.: Schlussanträge des Generalanwalts vom 23.9.2021

Dieselskandal: Thermofenster verstoßen gegen EU-Recht

Der Einbau einer integrierten Software, mit der entsprechend der Außentemperatur und der Höhenlage die Höhe der Schadstoffemissionen eines Fahrzeugs verändert wird, ist unionsrechtswidrig und ein solches Fahrzeug nicht vertragsmäßig i.S.d. Richtlinie 1999/44. Eine solche Einrichtung kann nicht mit dem Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall und dem sicheren Betrieb des Fahrzeugs gerechtfertigt werden, wenn diese Einrichtung vornehmlich der Schonung von Anbauteilen wie AGR-Ventil, AGR-Kühler und Dieselpartikelfilter dient.

Der Sachverhalt:
Im Hinblick auf die steigende Bedeutung des Umweltschutzes in der EU wurden Kraftfahrzeuge immer strengeren Vorschriften bzgl. der Emission von Schadstoffen unterworfen, namentlich mit dem Erlass der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen (im Folgenden: Verordnung). Die drei vorliegenden Rechtssachen betreffen Automobile, die mit einer Software ausgestattet waren, welche unter bestimmten Außentemperaturbedingungen und ab einer bestimmten Höhenlage die Reduzierung der Emissionen von Stickoxid (NOx) begrenzt.

So wird bei dem in der ersten Rechtssache (C-128/20) in Rede stehenden Fahrzeug die Abgasreinigung infolge des Updates der in den Rechner zur Motorsteuerung integrierten Software bei einer Außentemperatur von unter 15 Grad Celsius und bei einer Außentemperatur von über 33 Grad Celsius sowie bei einer Höhe des Fahrbetriebs von mehr als 1.000 Metern ausgeschaltet (Thermofenster). Außerhalb dieses Thermofensters im Verlauf von 10 Grad Celsius und oberhalb von 1.000 Höhenmetern im Verlauf von 250 Höhenmetern wird die Abgasrückführrate linear auf 0 verringert, wodurch es zu einer Erhöhung der NOx-Emissionen über die Grenzwerte der Verordnung kommt. Die in der zweiten (C-134/20) und dritten (C-145/20) Rechtssache in Rede stehenden Fahrzeuge enthielten ebenfalls eine Software, die das Abgasrückführungssystem gemäß dem Thermofenster regelte.

Vor diesem Hintergrund haben mehrere Gerichte in Österreich beschlossen, den EuGH im Wesentlichen zu fragen, ob eine Software dieser Art eine "Abschalteinrichtung" i.S.d. Verordnung darstellt, und wenn ja, ob diese Software auf der Grundlage der in dieser Verordnung vorgesehenen Ausnahmen vom Verbot solcher Einrichtungen zulässig ist.

Die Gründe:
Der EuGH hat bereits festgestellt (EuGH v. 17.12.2020 - C-693/18), dass eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der in der Verordnung vorgesehenen Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine "Abschalteinrichtung" darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.

Um festzustellen, ob es sich bei der fraglichen Software um eine "Abschalteinrichtung" i.S.d. Verordnung handelt, ist zu prüfen, wie sie unter "normalem Betrieb" der betroffenen Fahrzeuge funktioniert. Mit diesem Betrieb sind nicht die Bedingungen des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ), sondern die Bedingungen des realen Fahrbetriebs gemeint. Das Thermofenster ist insoweit für die tatsächlichen Fahrbedingungen nicht repräsentativ, da amtliche Statistiken zeigten, dass die Durchschnittstemperaturen der Jahre 2017 bis 2019 in Österreich und Deutschland sowie in anderen Mitgliedstaaten deutlich unter 15 Grad Celsius gelegen haben. Aufgrund der Topografie Österreichs und Deutschlands führen die Kraftfahrzeuge außerdem vielfach in Höhen von mehr als 1.000 Metern. Daraus folgt, dass die in Rede stehende Software bei normalen Nutzungsbedingungen und normalem Fahrzeugbetrieb die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringert, so dass sie eine "Abschalteinrichtung" i.S.d. Verordnung darstellt.

Allerdings sieht die Verordnung Ausnahmen vom Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen vor, insbesondere, wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten. Der Unionsgesetzgeber hat dabei klar zwischen dem Motor, auf den sich die betreffende Ausnahme bezieht, und dem Emissionsminderungssystem, zu dem das Abgasrückführungssystem (AGR-System) gehört, unterschieden. Eine Abschalteinrichtung, die vornehmlich der Schonung von Anbauteilen wie AGR-Ventil, AGR-Kühler und Dieselpartikelfilter dient, fällt nicht unter die Verbotsausnahme, da das Funktionieren dieser Teile nicht den Schutz des Motors berührt. Im Übrigen hängt die Zulässigkeit einer solchen Einrichtung nicht davon ab, ob sie bereits bei Herstellung des Fahrzeugs in diesem verbaut oder nachträglich installiert wurde.

Im Rahmen der EG-Typgenehmigung müssen die Fahrzeuge zudem den unionsrechtlichen Anforderungen entsprechen, insbesondere denjenigen in Bezug auf Abschalteinrichtungen. Ist dies nicht der Fall, verfügen diese Fahrzeuge nicht über eine ordnungsgemäße, vom Hersteller ausgestellte Übereinstimmungsbescheinigung, und ein Verkauf oder eine Zulassung sind nicht erlaubt. Da ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher erwarten darf, dass die rechtlichen Anforderungen eingehalten werden, ist das betreffende Fahrzeug, selbst wenn es keine spezifischen Vertragsklauseln gibt, nicht i.S.d. Richtlinie 1999/443 (im Folgenden: Richtlinie) dem Kaufvertrag gemäß. Wenn keine ordnungsgemäße Übereinstimmungsbescheinigung vorliegt, stimmt das betreffende Fahrzeug nämlich nicht i.S.d. Richtlinie "mit der vom Verkäufer gegebenen Beschreibung" überein, es eignet sich weder "für einen bestimmten vom Verbraucher angestrebten Zweck" noch "für die Zwecke, für die Güter der gleichen Art gewöhnlich gebraucht werden", selbst wenn dieses Fahrzeug über eine gültige EG-Typgenehmigung verfügt.

Schließlich kann eine Vertragswidrigkeit, die darin besteht, dass das betreffende Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, selbst dann nicht als "geringfügig" angesehen werden, wenn der Verbraucher das Fahrzeug selbst bei Kenntnis des Vorhandenseins dieser Einrichtung und ihrer Wirkungsweise erworben hätte. Unter diesen Umständen wird dem Verbraucher nicht das Recht genommen, gem. der Richtlinie die Vertragsauflösung zu verlangen.



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 23.09.2021 12:14
Quelle: EuGH PM Nr. 162 vom 23.9.2021

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