Das konzernrechtliche Trennungsprinzip und Sanktionsdurchgriffe im (europäischen) Wirtschaftsrecht (Poelzig, AG 2023, 97)
Während Konzerngesellschaften nach dem gesellschaftsrechtlichen Trennungsprinzip grundsätzlich nur für ihre eigenen Verbindlichkeiten haften, werden Konzerne in jüngerer Zeit zunehmend als Einheit für Rechtsverstöße in die Verantwortung genommen. Im Interesse einer effektiven Durchsetzung vor allem europäischer Vorgaben können neben der zuwiderhandelnden Gesellschaft unter Umständen auch andere Rechtsträger des Konzerns zivil- und bußgeldrechtlich in die Verantwortung genommen werden. Beispiele für solche Sanktionsdurchgriffe sind die konzernweite Bebußung von Kartellverstößen durch die Europäische Kommission und das BKartA oder die europaweit intensiv geführte Debatte über die zivilrechtliche Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften für Menschen- oder Umweltrechtsverstöße durch ihre (ausländischen) Töchter. Um diese aktuellen Entwicklungen einordnen zu können, wird zunächst die ökonomische und rechtliche Bedeutung der Haftungstrennung dargestellt. Anschließend soll ein kurzer Blick auf die im nationalen Gesellschaftsrecht anerkannten Fallgruppen des Haftungsdurchgriffs in Kapitalgesellschaften geworfen werden, bevor sodann die aktuellen konzernweiten Sanktionsdurchgriffe im (europäischen) Wirtschaftsrecht beleuchtet und systematisiert und schließlich auf ihre Legitimation hinterfragt werden.
I. Einleitung
II. Ökonomische und rechtliche Bedeutung des Trennungsprinzips
1. Ökonomische Legitimation der Haftungstrennung
a) Haftungstrennung in Kapitalgesellschaften
b) Haftungstrennung im Konzern
2. Rechtliche Bedeutung der Haftungstrennung
III. Haftungsdurchgriffe in der Kapitalgesellschaft
IV. Sanktionsdurchgriffe im Konzern
1. Sanktionsdurchgriff von der Tochter- auf die Muttergesellschaft
a) Echter Sanktionsdurchgriff
aa) Kartellrecht
bb) Datenschutzrecht?
b) Unechter Sanktionsdurchgriff
aa) Bankaufsichtsrecht
bb) Vorschlag für eine Richtlinie über Corporate Sustainability Due Diligence
cc) Zwischenergebnis
2. Umgekehrter Sanktionsdurchgriff von der Mutter- auf die Tochtergesellschaft
3. Wirtschaftlicher Sanktionsdurchgriff
4. Zwischenergebnis
V. Legitimation der Sanktionsdurchgriffe im Konzern
1. Echter und unechter Sanktionsdurchgriff auf die Mutter
a) Sanktionsdurchgriff zur effektiven Verhaltenssteuerung
b) Angemessenheit
2. Umgekehrter Sanktionsdurchgriff auf die Tochter
VI. Fazit
I. Einleitung
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Das Trennungsprinzip ist ein fundamentaler Grundsatz des Kapitalgesellschaftsrechts. Gesellschaften und ihre Gesellschafter sind hiernach ebenso streng voneinander zu trennen wie im Konzern Mutter- von ihren Tochtergesellschaften. Daraus folgt insbesondere, dass Muttergesellschaften nicht für Verbindlichkeiten ihrer Tochtergesellschaften haften. Den Gläubigern der Tochter steht gem. § 1 Abs. 1 Satz 1 AktG, § 13 Abs. 2 GmbHG ausschließlich das Gesellschaftsvermögen zur Verfügung. Umgekehrt haftet die Tochtergesellschaft auch nicht für die Verbindlichkeiten ihrer Muttergesellschaft. Damit eng verbunden ist das Rechtsträgerprinzip des § 30 OWiG, wonach Bußgelder grundsätzlich nur gegen die zuwiderhandelnde juristische Person verhängt werden können, also die Identitäten von Mutter- und Tochtergesellschaft auch bei der Bebußung von Verstößen streng voneinander zu trennen sind.
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Seit geraumer Zeit werden Konzerne aber nicht nur wirtschaftlich, sondern zunehmend auch rechtlich als Einheit betrachtet, soweit es um Rechtsverstöße aus ihrem Kreis geht. Im Interesse einer effektiven Durchsetzung vor allem europäischer Vorgaben werden hierbei neben der zuwiderhandelnden Gesellschaft auch andere Rechtsträger des Konzerns zivil- und bußgeldrechtlich in die Verantwortung genommen. Beispiele für solche Sanktionsdurchgriffe sind die konzernweite uU. milliardenschwere Bebußung von Kartellverstößen durch die Europäische Kommission und das BKartA im Interesse eines schlagkräftigen public enforcement oder die europaweit intensiv geführte Debatte über die zivilrechtliche Verantwortlichkeit von Muttergesellschaften für Menschen- oder Umweltrechtsverstöße durch ihre (ausländischen) Töchter im Sinne eines private enforcement.
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Um diese aktuellen Entwicklungen einordnen zu können, wird zunächst die ökonomische und rechtliche Bedeutung der Haftungstrennung dargestellt (II.; Rz. 4 ff.). Anschließend soll ein kurzer Blick auf die im nationalen Gesellschaftsrecht anerkannten Fallgruppen des Haftungsdurchgriffs in Kapitalgesellschaften geworfen werden (III.; Rz. 10 ff.), bevor sodann die aktuellen konzernweiten Sanktionsdurchgriffe im (europäischen) Wirtschaftsrecht beleuchtet und systematisiert (IV.; Rz. 13 ff.) und schließlich auf ihre Legitimation hinterfragt werden (V.; Rz. 30 ff.).
II. Ökonomische und rechtliche Bedeutung des Trennungsprinzips
1. Ökonomische Legitimation der Haftungstrennung
a) Haftungstrennung in Kapitalgesellschaften
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Auf Grundlage der aus dem Trennungsprinzip folgenden Haftungsbeschränkung haften Gesellschafter einer Kapitalgesellschaft nicht für Verbindlichkeiten der Gesellschaft (sog. owner shielding). Geht man von dem privatrechtlichen Grundsatz aus, dass für gemeinsames unternehmerisches Handeln mit dem gesamten individuellen Vermögen gehaftet wird, 4 handelt es sich hierbei um ein Haftungsprivileg der Gesellschafter. Die Kosten des Scheiterns riskanter Unternehmungen tragen nicht sie selbst, sondern die Gläubiger, die ihre Forderungen im Falle der Insolvenz nicht mehr (vollständig) durchsetzen können. Freiwillige Gläubiger, wie Vertragsgläubiger, können sich gegen diese Externalisierung von Kosten vertraglich durch Vereinbarung höherer Risikoprämien absichern. Unfreiwilligen Gläubigern, wie insbesondere Deliktsgläubigern oder dem Staat als Bußgeldgläubiger, steht diese Möglichkeit nicht offen. Das Risiko einer wirtschaftlichen Unternehmung wird so von den Gesellschaftern auf die unfreiwilligen Gläubiger verlagert. Dieses Haftungsprivileg lässt sich aber mit wohlfahrtsökonomischen Vorteilen begründen.
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So werden durch die Beschränkung der Haftung für Gesellschaftsverbindlichkeiten auf das Gesellschaftsvermögen vor allem volkswirtschaftlich erwünschte Investitionen in Unternehmen gefördert. Denn während bei einer unbegrenzten Haftung der Gesellschafter und dem drohenden Verlust des gesamten Privatvermögens risikoaverse Eigenkapitalgeber vor Investitionen zurückschrecken, reduziert sich das Risiko der beteiligten Investoren in Kapitalgesellschaften auf den potentiellen Verlust ihrer Kapitaleinlage bzw. die mögliche Entwertung ihres jeweiligen Gesellschaftsanteils. Auf diese Weise fördert die Haftungsbeschränkung Unternehmungen, die zwar mit Risiken verbunden, aber volkswirtschaftlich sinnvoll sind. Darüber hinaus fallen die Überwachungskosten der Gesellschafter in Kapitalgesellschaften geringer aus, da sie im Hinblick auf ihr begrenztes Haftungsrisiko weniger Aufwand betreiben müssen, um die Geschäftsleitung zu kontrollieren und die Vermögenssituation der Mitgesellschafter im Blick zu behalten. Und schließlich erleichtert die Haftungsbeschränkung die Übertragbarkeit der Gesellschaftsanteile und schafft damit die notwendige Basis für einen funktionsfähigen Kapitalmarkt.
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Das Trennungsprinzip hat neben der Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen auch zur Konsequenz, dass umgekehrt das Gesellschaftsvermögen vor dem Zugriff der Privatgläubiger der Gesellschafter abgeschirmt wird (sog. entity shielding). Ohne diese „umgekehrte Haftungsbeschränkung“ wären die Gläubiger einer Gesellschaft dem Schicksal aller persönlichen finanziellen Angelegenheiten sämtlicher Gesellschafter ausgesetzt. Die umgekehrte Haftungsbeschränkung trägt daher zum einen zur Verringerung der Überwachungskosten auf Seiten der Gesellschaftsgläubiger und Mitgesellschafter bei und schützt zum anderen den Unternehmenswert der Gesellschaft vor Angriffen durch Privatgläubiger der Gesellschafter.
b) Haftungstrennung im Konzern
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Umstritten ist, ob und inwieweit sich die Haftungstrennung auch im Konzern wohlfahrtsökonomisch rechtfertigen lässt. Die Haftungsbeschränkung hat im Konzern zur Folge, dass das Privatvermögen der Gesellschafter der Muttergesellschaft durch einen (übermäßigen) „Mehrfachmantel“ in Form einer doppelten Haftungssegmentierung abgesichert wird. Daher tritt die Bedeutung der Haftungsbeschränkung für den Schutz des Privatvermögens natürlicher Personen ebenso in den Hintergrund wie als Basis für einen funktionsfähigen Kapitalmarkt. Die Haftungstrennung dient im Konzern vor allem...
