Aktuell in der AG

Gesetzgeberische Möglichkeiten de lege ferenda zur Verhinderung rechtswidriger Ignorierung der Unternehmensmitbestimmung (Bayer, AG 2023, 137)

Die „Ampelkoalition“ beabsichtigt eine Anpassung der Konzernzurechnungsregelungen des DrittelbG an diejenigen des MitbestG, wodurch sich die Anzahl der Unternehmen, die der Drittelbeteiligungspflicht unterliegen, vergrößern wird. Dem verbreiteten Problem der gesetzwidrigen Ignorierung bestehender Mitbestimmungspflichten, das zuletzt auch in verschiedenen empirischen Erhebungen evident wurde, wird damit aber nicht abgeholfen. Hier setzt der vorliegende Beitrag an. Die Vorschläge zielen zum einen auf eine Erweiterung des Kreises der Antragsberechtigten im mitbestimmungsrechtlichen Statusverfahren (§ 98 Abs. 2 AktG), zum anderen wird eine gesetzliche Pflicht zur Erstellung eines „Berichts zum Mitbestimmungsstatus“ für Unternehmen als sinnvoll erachtet. Von Sanktionsvorschriften zur Durchsetzung der Mitbestimmungspflicht sollte indes abgesehen werden.

I. Einleitung
II. Große Mitbestimmungslücken durch Mitbestimmungsignorierung, besonders in der GmbH-Landschaft

1. Phänomen „Mitbestimmungsignorierung“
2. Empirischer Überblick
III. Ungleichgewichte im System der §§ 97 ff. AktG als Ursache für Mitbestimmungslücken
1. Sanktionslose Rechtspflichten des zuständigen Vertretungsorgans
2. Alternatives Konzept des Gesetzgebers: Weitere Antragsberechtigungen
IV. Kumulierte Lösungsansätze zur Schließung der gesetzwidrigen Mitbestimmungslücken
1. Vorbemerkung
2. Echte Sanktionsvorschriften für den Fall der Pflichtverletzung der Unternehmensleitung?
3. Ausbau des Kreises der Antragsberechtigten gem. § 98 Abs. 2 AktG
a) Antragsrecht nach § 98 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AktG (Arbeitnehmer)
b) Antragsrecht nach § 98 Abs. 2 Satz 1 Nr. 10 AktG (Gewerkschaften)
c) Antragsrecht nach § 98 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AktG (Betriebsräte) und Folgeänderungen für § 98 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AktG und § 98 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AktG
d) Konsequenzen des Ausbaus des Kreises der Antragsberechtigten gem. § 98 Abs. 2 AktG
4. „Bericht zum Mitbestimmungsstatus“
V. Zusammenfassung


I. Einleitung
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Die „Ampelkoalition“ hat im Koalitionsvertrag vereinbart, die unternehmerische Mitbestimmung der Arbeitnehmer punktuell auszubauen. Insbesondere soll die Konzernzurechnung im Falle der Drittelbeteiligung erweitert werden, indem – wie schon bei der paritätischen Mitbestimmung gem. § 5 Abs. 1 MitbestG – auch bei faktischer Beherrschung, mithin bei Nichtvorliegen eines Beherrschungs- oder Eingliederungsverhältnisses die Anwendung des Drittelbeteiligungsgesetzes verpflichtend gemacht wird:

„Wir werden die Konzernzurechnung aus dem Mitbestimmungsgesetz auf das Drittelbeteiligungsgesetz übertragen, sofern faktisch eine echte Beherrschung vorliegt.“

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Hierdurch soll die aktuelle Mitbestimmungslücke, durch die insbesondere viele GmbH-Konzerne mit 501 bis 2000 im Inland beschäftigten Arbeitnehmern mitbestimmungsfrei blieben, geschlossen werden, da es wenig überzeugend ist, die Konzernzurechnung im Drittelbeteiligungsgesetz anders zu gestalten als im Mitbestimmungsgesetz.

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Weiterer Reformbedarf wurde im Koalitionsvertrag im Hinblick auf den „Einfriereffekt“ nach dem Recht der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) ausgemacht, während sich die Koalitionsparteien im Hinblick auf das gleichfalls beliebte Mitbestimmungsvermeidungsvehikel der „Auslandskapitalgesellschaft & Co KG“ entgegen Vorschlägen aus dem Schrifttum offenkundig nicht auf eine Reformlösung verständigen konnten. Auch diese lediglich punktuelle Reform der unternehmerischen Mitbestimmung bietet jedoch die Gelegenheit, den Missstand der illegalen Mitbestimmungsvermeidung in das Blickfeld des Gesetzgebers zu rücken und Abhilfe zu schaffen.

II. Große Mitbestimmungslücken durch Mitbestimmungsignorierung, besonders in der GmbH-Landschaft

1. Phänomen „Mitbestimmungsignorierung“

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Anders als man zunächst vermuten mag, verfügt nur ein kleiner Teil der Kapitalgesellschaften mit mehr als 500 Arbeitnehmern in Deutschland über eine Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Dieses Phänomen ist besonders in der GmbH-Landschaft ausgeprägt. Verschiedene Studien haben hier bereits für die Vergangenheit erhebliche Mitbestimmungslücken aufgezeigt. Mit diesen Mitbestimmungslücken eigener Art sind nicht etwa die verschiedenen nach geltendem Recht gestatteten Ausweichkonstruktionen gemeint (z.B. „Auslandskapitalgesellschaft & Co. KG“, Einfriereffekt bei SE), die eine Anwendbarkeit der Mitbestimmungsgesetze verhindern, sondern die weit verbreitete Ignorierung der gesetzlichen Vorgaben.

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Eine erhebliche Anzahl von Unternehmen verfügt trotz bestehender gesetzlicher Verpflichtungen über keinen mit Arbeitnehmern besetzten Aufsichtsrat. Das gilt insbesondere mit Blick auf die Drittelmitbestimmung (Drittelbeteiligungsgesetz), aber auch bezogen auf die paritätische Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976. Begrifflich darf man hier nicht von einer Mitbestimmungsvermeidung, sondern von einer Mitbestimmungsignorierung sprechen. Je größer allerdings der Spielraum für legale Möglichkeiten der Mitbestimmungsvermeidung ist, desto größer ist auch der Anreiz zur Mitbestimmungsignorierung bei mitbestimmungspflichtigen Unternehmen, da im Fall der Einforderung der Mitbestimmung umso leichter auf eine Vermeidungsgestaltung ausgewichen werden kann. Insoweit reduziert sich durch die Einschränkung der Spielräume für die legale Mitbestimmungsvermeidung auch der Anreiz zur Mitbestimmungsignorierung.

2. Empirischer Überblick
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Besonders im Dienstleistungssektor stößt man auf ein hohes Ausmaß an „Mitbestimmungsignorierung“. Selbst bei großen Konzernen mit Tausenden von Beschäftigten, wie etwa bei ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 28.02.2023 09:35
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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