Aktuell in der AG

Der Börsenrückzug von Rocket Internet: Delisting zu Schleuderpreisen? (Koch, AG 2021, 249)

Die im Jahr 2020 ausgebrochene Corona-Pandemie hat zu zahllosen Verwerfungen geführt, von denen auch die Börsenkurse nicht verschont blieben. Im März 2020 setzte der stärkste Kursrutsch seit der Lehmann-Pleite 2008 ein, in dessen Verlauf der DAX um 36 % fiel. Anleger, die die Nerven behalten und ihre Anteile nicht verkauft haben, können gelassen auf diese unruhigen Zeiten zurückblicken. Die Kurse haben sich im Frühjahr 2021 prächtig erholt und der DAX hat einen neuen Höchststand erreicht. Aber was ist mit denjenigen, die in dieser Zeit durch ein Delisting faktisch in einen Zwangsverkauf zum Börsenkurs getrieben wurden? Müssen sie sich mit den in dieser Zeit angebotenen Tiefstpreisen abfinden oder haben die Gerichte judikativen Spielraum, um den Besonderheiten der Corona-Situation Rechnung zu tragen?


I. Hard Case

II. Meinungsstand

III. Verweisung in das Übernahmerecht

1. Die Grundaussage in § 39 Abs. 3 BörsG

2. Rückschlüsse aus der Ausnahmeregelung?

3. Vergleich zwischen Wortlautfassungen des BörsG und des WpÜG

4. Weitere Vorgaben in der WpÜG-AngebVO

5. Zwischenfazit und methodische Konsequenzen

IV. Gesetzgebungsmaterialien

1. Bisherige Stellungnahmen in der Literatur

2. Beschlussempfehlung des Finanzausschusses

3. Rückschlüsse aus der Beschlussempfehlung

a) Beschränkung auf den Regelfall

b) Begründungselement

c) Systemgerechtigkeit

V. Verweis auf das Übernahmerecht

1. Abschließender Charakter des § 5 Abs. 4 WpÜG?

2. Auswirkungen auf das Delisting

VI. Ergebnis
 

I. Delisting in Zeiten der Pandemie

„ Samwer nutzt die Coronakrise aus, um billig davonzukommen“ titelte das Handelsblatt am 1.9.2020 und attestiert dem Großaktionär von Rocket Internet im solchermaßen überschriebenen Kommentar ein „skrupelloses“ Vorgehen zu Lasten der Kleinaktionäre. Marc Tüngler, Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, spricht im Interview mit dem Nachrichtensender n.tv von „legalem Betrug“, durch den die Aktionäre „kastriert“ würden. Anlass für diese kritischen Stellungnahmen ist die Entscheidung des Vorstands, Rocket Internet von der Börse zu nehmen. Über den durch diese Entscheidung provozierten Unmut der Aktionäre wird man sich kaum wundern, wenn man einen Blick auf die Entwicklung des Börsenkurses wirft. Die Gesellschaft wurde seinerzeit für 42,50 € pro Aktie an die Börse gebracht; das den Aktionären unterbreitete Rückkaufangebot beläuft sich auf 18,57 €.

Viel Freude hat ein Rocket Internet-Investment den meisten Anlegern nicht gebracht. Während der gesamten Phase der Börsennotierung kannte der Kurs im Wesentlichen nur eine Richtung und die zeigte deutlich nach unten. Dass die Abfindung der Kleinaktionäre allerdings derart mickrig ausfällt, war trotz aller unternehmerischen Fehlschläge nicht zu erwarten. Zu Beginn des Jahres stand der Börsenkurs immerhin noch bei 22,22 €. Den Grund, warum die Abfindung letztlich doch 16,6 % niedriger ausfiel, ist in dem durch die Corona-Pandemie ausgelösten Kurssturz zu suchen. Rocket Internet hat das Delisting am 1.9.2020 bekanntgegeben und der Berechnung der Abfindung nach § 39 Abs. 3 Satz 2 BörsG den Börsenkurs der vergangenen sechs Monate zugrunde gelegt, womit der dramatische Kursverfall, der im März 2020 durch die Corona-Krise ausgelöst wurde, vollständig zu Lasten der Minderheitsaktionäre gegangen ist. Zur Erinnerung: Zu Beginn des Jahres stand der DAX bei 13.249 Punkten, fiel bis zum 18. März auf 8.441 Punkte, um dann in den folgenden Monaten wieder mühsam nach oben zu klettern. Erst zu Beginn des Jahres 2021 war er in die alten Regionen zurückgekehrt, um dann im Februar gar historische Höchststände zu erreichen. An diesem Happy-End durften die Rocket Internet-Aktionäre, die das Angebot angenommen hatten, indes nicht mehr partizipieren, weil ihre Abfindung ausschließlich im Tal der Coronatränen berechnet worden war. Nach der Beobachtung des Handelsblatts ist Oliver Samwer also billig davongekommen, was auch in Zahlen eine Bestätigung findet: Nach Angaben der Wirtschaftswoche lag im Zeitpunkt des Delistings die Marktkapitalisierung von 2,6 Mrd. € nicht mehr allzu weit vom bloßen Kassenbestand von 1,9 Mrd. € entfernt. Für den Juristen drängt sich damit aber die Frage auf, ob auch die Gerichte diesen Coup werden durchgehen lassen. Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

II. Meinungsstand

Es fällt schwer, diesen Fall zu betrachten, ohne dabei ein juristisches Störgefühl zu empfinden. Die zeitliche Koinzidenz zwischen der Bekanntgabe des Delistings und dem dadurch bedingten Fristenlauf just zum Beginn der Corona-Krise ist derart frappierend und der Kursverfall derart drastisch, dass es den Kleinaktionären kaum zumutbar erscheint, sich mit einer Abfindung nach dem Börsenkurs abspeisen zu lassen. Dennoch wäre die Frage, ob die Rocket Internet-Aktionäre ihren Auskauf zu Schleuderpreisen tatsächlich hinnehmen müssen, nach teilweise vertretener Ansicht wohl zu bejahen: Losgelöst von der konkreten Fallanschauung, die im Mittelpunkt dieses Beitrags steht, wird im Schrifttum vertreten, die Berechnung der Gegenleistung nach § 39 Abs. 3 BörsG stelle allein auf den durchschnittlichen Börsenkurs ab. Ausnahmen seien ausschließlich dort anzuerkennen, wo sie in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG ausdrücklich vorgesehen seien. Zum Teil wird diese Deutung mit einer relativ klaren rechtspolitischen Kritik verbunden, die sich daran entzündet, dass der Gesetzgeber mit der Fixierung auf den Börsenkurs das Ziel verfehlt habe, den Minderheitsaktionären eine angemessene Gegenleistung zu gewährleisten, aber trotzdem unterstellt, das Ergebnis sei de lege lata hinzunehmen.

Die Gegenauffassung wird namentlich von Thomas Eckhold vertreten, der darauf verweist, dass grundsätzliche jede Ausnahmevorschrift (...)



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.03.2021 16:05
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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