Aktuell in der AG

Temporärer Widerruf von Vorstandsbestellungen - § 84 Abs. 3 AktG (Seibt, AG 2021, 733)

Die #stayonboard-Initiative war erfolgreich in ihrem Bestreben, in das laufende Gesetzgebungsverfahren für ein Zweites Führungspositionen-Gesetz (FüPoG II) noch eine aktienrechtliche Neuregelung über die „Auszeit“ für Vorstandsmitglieder aufzunehmen (§ 84 Abs. 3 AktG). Dieser Beitrag analysiert die Neuregelung kritisch, schlägt der Unternehmenspraxis mögliche Varianten für die weiter erforderlichen Begleitvereinbarungen zwischen der Gesellschaft und dem betroffenen Vorstandsmitglied vor und untersucht vor dem Hintergrund der Neuregelung die Frage einer temporären „Auszeit“ auch für Aufsichtsratsmitglieder.

I. Einleitung
II. Inhalt der Gesetzesregelung

1. Konzept und Stufenstruktur im Überblick
2. Einzelheiten des Drei-Stufenmodells
a) Stufe 3: Mutterschutz
b) Stufe 2: Sonstige Lebenssachverhalte mit Zeitraum von bis zu drei Monaten
c) Stufe 1: Sonstige Lebenssachverhalte mit Zeitraum von mehr als drei und bis zu zwölf Monaten
3. Gesetzliche Folgeregelungen
a) Auswirkungen auf die Amtszeit
b) Mindestzahl der Vorstandsmitglieder
c) Mindestbeteiligungsquote von Frauen und  Männern
d) Einhaltung des Wettbewerbsverbots trotz  Bestellungswiderrufs
III. Gesetzlich ungeregelte Praxisfragen
1. Flankierende organisatorische Maßnahmen
2. Flankierende anstellungsvertragliche Regelungen
3. Kein Ausschluss eines endgültigen Bestellungswiderrufs
4. Keine Sperrwirkung gegenüber anderen Rechtsinstituten
IV. Übertragbarkeit der Regelungsidee des temporären Bestellungswiderrufs auf Aufsichtsratsmitglieder
1. Fragestellung und Diskussionsstand
2. Ausgangspunkt: Unterschiedliche Rechtsstellung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern
3. Handlungsoptionen zur Ermöglichung von  „Auszeiten“ von Aufsichtsratsmitgliedern
V. Zusammenfassende Ergebnisse

I. Einleitung

1
Auslöser der gesetzlichen Neuregelung eines nur temporären Widerrufs von Vorstandsbestellungen (§ 84 Abs. 3 AktG) war das von breitem Medieninteresse begleitete Ausscheiden von Delia Lachance (geb. Fischer) aus dem Vorstand der Westwing Group AG zum 1.3.2020, um Mutterschutz mit anschließender Elternzeit für voraussichtlich sechs Monate wahrzunehmen. Nach zu diesem Anlass veröffentlichter Auffassung der Gesellschaft „[sehen] die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland [...] für Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften aktuell nicht die Möglichkeit vor, Mutterschutz sowie Elternzeit in Anspruch zu nehmen“, so dass ein Rücktritt vom Vorstandsamt zwingend sei.  Dieser Fall führte zur Gründung der Initiative „#stayonboard“, die im Mai 2020 die Forderung nach einem „Anspruch auf familiär bedingte und haftungsfreie Auszeiten“, eben ein „subjektives Recht auf Ruhenlassen des Mandates“ erhoben, um damit aus Sicht der Initiative „juristisch unsichere Einzelfallregelungen“ nicht nutzen zu müssen. Rechtstechnisch sollte dies über ein subjektives Recht des Vorstandsmitglieds auf Ruhenlassen des Mandates für eine Höchstdauer von z.B. sechs Monaten in bestimmten, gesetzlich festgelegten Fällen erreicht werden, wobei der Schutz der Unternehmensinteressen insbesondere durch eine Ankündigungsfrist seitens des Vorstandsmitglieds und eine nicht näher konturierte Berücksichtigung solcher berechtigten Unternehmensinteressen erfolgen sollte.

2
In der rechtspolitischen Debatte wurde die Initiative z.B. vom Deutschen Anwaltsverein (Genderausschuss) vollumfänglich begrüßt,  der Deutsche Anwaltsverein (Handelsrechtsausschuss), Ph. Scholz und der Verfasser hatten die Zielsetzung zwar begrüßt, aber den technischen Umsetzungsvorschlag (indes mit unterschiedlichen Lösungsmodellen) kritisiert.

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Die Forderung der #stayonboard-Initiative wurde von der Bundestagsfraktion der FDP auf die Legislativebene gehoben. Unterstützung erhielt die Initiative danach durch Beschluss der 91. Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister der Bundesländer am 26./27.11.2020 (TOP I 24: „Temporäre Mandatsniederlegung – Vereinbarung von Familie und Beruf auch auf der Führungsebene von Kapitalgesellschaften und Genossenschaften herstellen“). Der Bundesrat-Ausschuss für Familie und Jugend empfahl die Ergänzung des FüPoG II um einen Anspruch auf Ruhenlassen des Vorstandsamtes – entsprechend des Vorschlags des Deutschen Anwaltsvereins (Genderausschuss) – im Wege einer Neuregelung in § 86 AktG. Parallel dazu hatten die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD im Februar 2021 vom Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) um eine entsprechende „Formulierungshilfe“ erbeten, die dann auch Grundlage der Anhörung von Sachverständigen im Bundestag-Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am 1.3.2021 war. Diese Formulierungshilfe sah, um die Unternehmereigenschaft von Vorstandsmitgliedern nicht zu gefährden und Abstand zu den Arbeitnehmerschutzregelungen zu wahren, anders als die #stayonboard-Forderung (und z.B. die Empfehlung des Bundesrat-Ausschusses für Familie und Jugend) kein (einseitiges) subjektives Recht von Vorstandsmitgliedern auf Ruhenlassen des Vorstandsamtes bzw. temporären Bestellungswiderruf vor, sondern hob die alleinige Entscheidungsprärogative des Aufsichtsrats in konsequenter Fortführung seiner vom unternehmerischen Ermessen geprägten Personalkompetenz hervor:

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„Kann ein Mitglied eines Vorstands, der aus mehreren Personen besteht, wegen Mutterschutz, Elternzeit, der Pflege eines Familienangehörigen oder Krankheit seinen mit der Bestellung verbundenen Pflichten vorübergehend nicht nachkommen, kann der Aufsichtsrat die Bestellung des Vorstandsmitglieds auf dessen Verlangen widerrufen. Er hat in diesem Fall dem Vorstandsmitglied eine erneute Bestellung innerhalb eines Zeitraums von höchstens einem Jahr ab Widerruf zuzusichern.“

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Bei der Sachverständigenanhörung wurde das Regelungsziel ausdrücklich unterstützt von Röser und Favoccia, letztere hielt allerdings auch die Einführung eines „subjektiven Rechts des Vorstandsmitglieds auf Ruhenlassen des Mandats“ für erwägenswert. Auch in der weiteren Ressortabstimmung und parlamentarischen Diskussion wurde dieser BMJV-Regelungsvorschlag zunächst dafür kritisiert, dass hiermit zugunsten des Vorstandsmitglieds eben kein „subjektives Recht auf Auszeit“ statuiert werde , dann aber auch die fehlende Differenzierung zwischen den vier Lebenssachverhalten. Aufgrund eines Änderungsantrages der Regierungsfraktionen zum FüPoG II wurde dann – nach entsprechender Diskussion im Bundestag-Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend  – der finale Gesetzestext vom Deutschen Bundestag in zweiter und dritter Beratung am 11.7.2021 und vom Bundesrat in zweiter Beratung am 25.6.2021 ohne diesbezüglicher Änderungen beschlossen. Das FüPoG II (und damit die Neuregelung in § 84 Abs. 3 AktG) wurde am 11.8.2021 verkündet  und ist am 12.8.2021 nach Art. 27 Satz 1 FüPoG II in Kraft getreten.

II. Inhalt der Gesetzesregelung

1. Konzept und Stufenstruktur im Überblick

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Die Neuregelung in § 84 Abs. 3 AktG gilt für Vorstandsmitglieder der AG und der SE mit dualistischem Leitungssystem (über Art. 9 lit. c) ii) SE-VO). Bei der SE mit monistischem Leitungssystem regelt § 40 Abs. 6 SE AG zugunsten von geschäftsführenden Direktoren mit Entscheidungskompetenz des Verwaltungsrats das Entsprechende. Zugunsten von GmbH-Geschäftsführern wurde dies durch ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.10.2021 13:05
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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