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Referentenentwurf des Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen: Eine kritische Analyse (Seibt/Danwerth, AG 2022, 177)

Das Bundesjustizministerium hat den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften veröffentlicht. Das Konzept des Entwurfs baut materiell auf den pandemiebedingten Regelungen des COVMG auf. Der Beitrag setzt sich kritisch mit dem Referentenentwurf auseinander und schlägt Nachschärfungen und Änderungen zu Detailfragen vor.

I. Hintergrund, Ziel und wesentlicher Inhalt
1. Hintergrund und Genese
2. Ziel und prägende Aspekte
3. Wesentlicher Inhalt im Vergleich zum COVMG
4. Zeitlicher Anwendungsbereich
II. Entscheidung über Einberufung und Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung
1. Zuständigkeit
2. Befristung
3. Formulierungsvorschlag Satzungsermächtigung
III. Einberufung einer virtuellen Hauptversammlung
IV. Vorfeld einer virtuellen Hauptversammlung

1. Gegenanträge und Wahlvorschläge  (§ 126 Abs. 4 AktG E)
2. Vorabinformationen
a) Vorstandsbericht
b) Vorabeinreichung von Fragen
c) Veröffentlichung von Aktionärsfragen
d) Stellungnahmerecht
V. Durchführung einer virtuellen Hauptversammlung
1. Physische Anwesenheit vor Ort
2. Auskunftsrecht
a) Beantwortung vorab eingereichter Fragen
b) Nachfragen
3. Stellungnahmerecht
a) Begrifflichkeit
b) Live-Stellungnahmerecht
4. Antragsrecht
5. Zuschaltung und Verzeichnis zugeschalteter  Aktionäre
6. Zugänglichmachung von Unterlagen
VI. Nachfeld der virtuellen Hauptversammlung
1. Nichtigkeitsgründe und Anfechtungsmöglichkeiten
2. Auskunftserzwingungsverfahren
VII. Sonstige Aspekte
VIII. Zusammenfassung in Thesen


I. Hintergrund, Ziel und wesentlicher Inhalt

1. Hintergrund und Genese

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Der vorgelegte Referentenentwurf „eines Gesetzes zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften“ muss im Lichte der noch jungen, zweijährigen Geschichte der virtuellen Hauptversammlung in Deutschland betrachtet und bewertet werden:  Im März 2020 überraschte (und beruhigte) das BMJV vor dem Hintergrund der ersten Welle der COVID 19-Pandemie und damit verbundener Versammlungsbeschränkungen mit einem quasi über Nacht entstandenen Sondergesetz zur Ermöglichung virtueller Hauptversammlungen, dem COVMG. Ende 2020 wurde dieses zunächst mittels Rechtsverordnung durch das BMJV (unverändert) verlängert, um sodann vom Gesetzgeber überarbeitet zu werden. Letzterer schärfte einige Aktionärsrechte nach (Verkürzung der Fragenfrist, Fragerecht statt Fragemöglichkeit, Gegenantragsfiktion), so dass ab 28.2.2021 die zweite virtuelle Hauptversammlungssaison auf leicht geänderter Rechtsgrundlage abgehalten werden konnte. Im September 2021 – noch rechtzeitig vor Beginn der Hauptversammlungssaison 2022 – wurde das COVMG abermals und dann unverändert bis zum 31.8.2022 verlängert.

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Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung ist geregelt, dass Online-Hauptversammlungen dauerhaft ermöglicht und „dabei die Aktionärsrechte uneingeschränkt“ gewahrt werden sollen. Dem Vernehmen nach begannen die Arbeiten im BMJ allerdings bereits vor Bildung der Ampelkoalition, so dass der Referentenentwurf vom BMJ nach der Ressortabstimmung schon am 9.2.2022 veröffentlicht werden konnte. Zugleich wurde eine Möglichkeit zur Stellungnahme bis zum 11.3.2022 eingeräumt. Mit einem Regierungsentwurf ist demnach bereits zu Beginn des zweiten Quartal 2022 zu rechnen. Das Gesetzgebungsverfahren könnte planmäßig im Juli 2022 abgeschlossen sein, so dass das Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften zum 1.9.2022 in Kraft treten könnte.

2. Ziel und prägende Aspekte
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Drei Aspekte prägen den Entwurf: (1) Die elektronische Rechtsausübung wird auf alle Mitgliedschaftsrechte erstreckt, wenngleich nur ausnahmsweise zwingend mittels Zwei-Wege-Direktverbindung (Digitalisierung). (2) Die weitgehende Verlagerung der Entscheidungsprozesse in das Vorfeld der Hauptversammlung wird anerkannt und mit einer Verbesserung der Vorab-Informationsbasis der Aktionäre unterlegt (Vorverlagerung). Die Einschränkung der Ausübungsmöglichkeit in der Hauptversammlung wird jeweils durch gesteigerte Beteiligungsmöglichkeiten im Vorfeld kompensiert. (3) Durch diese Vorverlagerung bietet sich die Möglichkeit, den Hauptversammlungstag selbst auf die Diskussion strategisch bedeutsamer Themen zu konzentrieren und attraktiver zu gestalten (Entzerrung). Demgegenüber sieht der Referentenentwurf keine explizite Regelung sog. Hybridversammlungen vor. Weiterhin möglich – und hierauf referenziert der Referentenentwurf – ist die Abhaltung einer physischen Hauptversammlung, die um elektronische Elemente (Teilnahme, Briefwahl, Bild- und Tonübertragung) erweitert wird. Da bei einer virtuellen Hauptversammlung nach § 118a Abs. 1 Satz 1 AktG-E jede physische Präsenz von Aktionären oder Bevollmächtigten ausgeschlossen ist, kann eine virtuelle Versammlung dagegen nicht durch eine physische Anwesenheitsoption erweitert werden. Die Grundlage einer Hybridversammlung ist (und bleibt) damit eine physische Hauptversammlung.

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Daneben will der Referentenentwurf die positiven Aspekte der virtuellen Hauptversammlungssaisons 2020/21 verstetigen. So betont das BMJ, dass mit virtuellen Aktionärstreffen die Hauptversammlungspräsenz gesteigert werden konnte. Diese Beobachtung erscheint auf den ersten Blick auch plausibel, weil mit dem virtuellen Format die Beteiligung ausländische Aktionäre, für die eine Präsenzteilnahme in Deutschland allenfalls unter hohem Aufwand in Betracht kommt, potentiell erleichtert wird. Dies dürfte mit Blick auf Reise- und Übernachtungskosten und vor allem damit verbundenen zeitlichen Aufwendungen ebenso für Kleinaktionäre (mit inländischem Wohnsitz) gelten. Der Entwurf verweist daneben auf die von SJS-HV-Consult erhobene Aktionärspräsenz von 67,37 % der DAX30-Gesellschaften für das Jahr 2020. Für das Jahr 2021 sank diese Quote allerdings auf 66,69 % und damit unter (!) die Präsenzhauptversammlungssaison des Jahres 2018 mit einer Präsenzquote von 66,86 %. Ein Trend zur Steigerung der Aktionärspräsenz ist tatsächlich mit der virtuellen Hauptversammlung (bisher) bei einer Durchschnittsbetrachtung nicht verbunden.

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Anknüpfen möchte der Entwurf zu Recht auch an die gesteigerte Qualität und Tiefe der Beantwortung von Aktionärsfragen, die mit deren Verlagerung in das Vorfeld der Versammlung und die damit einhergehende längere Bearbeitungszeit verbunden sei. Zudem seien virtuelle Hauptversammlungen im Vergleich zur Präsenzversammlung kostengünstiger für die Gesellschaften. Auch spreche für die Verstetigung der virtuellen Hauptversammlung eine erhöhte Attraktivität der Aktionärstreffens gerade für institutionelle Anleger durch die Verbesserung der Informationsbasis im Vorfeld der Versammlung.

3. Wesentlicher Inhalt im Vergleich zum COVMG
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Inhaltlich übernimmt der Entwurf im Grundsatz zunächst die Regelungen des COVMG: Es muss also die gesamte Versammlung mit Bild und Ton übertragen (§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AktG E, zuvor § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 COVMG), die Stimmrechtsausübung der Aktionäre im Wege elektronischer Kommunikation (also mittels elektronischer (i) Teilnahme oder (ii) Briefwahl) sowie Vollmachtserteilung ermöglicht (§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AktG E, zuvor § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 COVMG) und die Möglichkeit zum Widerspruch gegen einen Beschluss der Hauptversammlung im Wege elektronischer Kommunikation eingeräumt werden (§ 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 AktG E, zuvor § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 COVMG). Eine Pflicht zur elektronischen Teilnahme i.S.d. § 118 Abs. 1 Satz 2 AktG ist weiterhin (zu Recht) nicht vorgesehen. Hybride Versammlungen dürften damit ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.03.2022 10:26
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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