Aktuell in der AG

"Corporate Sustainability Due Diligence"-Richtlinie - (Kein) Systemumbruch im deutschen Aktienrecht? (Harbarth, AG 2022, 633)

Mit dem im Februar 2022 veröffentlichten Vorschlag für eine Richtlinie über die nachhaltigkeitsbezogenen Sorgfaltspflichten von Unternehmen plant die EU-Kommission u.a. die Einführung einer allgemeinen Pflicht für Mitglieder der Unternehmensleitung, die Folgen ihrer Entscheidungen für Nachhaltigkeitsaspekte, Menschenrechte, Klimaschutz und Umwelt zu berücksichtigen. Der Beitrag diskutiert die Frage, wie sich eine solche unionsrechtliche Vorgabe auf die gesetzliche Zielkonzeption deutscher Aktiengesellschaften auswirken würde.

I. Einführung
II. Aktienrechtliche Zielkonzeption

1. Shareholder Value-Ansatz
2. Interessenpluralistischer Ansatz
a) Herrschende Meinung: Keine materiellen Zielvorgaben
b) Gegenauffassung: Nachhaltigkeit als normiertes Unternehmensziel börsennotierter Aktiengesellschaften
III. Art. 25 Abs. 1 CSDD-Richtlinienentwurf
1. Ausgangssituation
2. Situation bei Verabschiedung der CSDD-Richtlinie
a) Prozedurale oder ergebnisbezogene Berücksichtigungspflicht?
b) Stellungnahme
aa) Wortlaut
bb) Erwägungsgründe
cc) Entstehungsgeschichte
dd) „Effet utile“
IV. Fazit


I. Einführung

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Am 23.2.2022 veröffentlichte die EU-Kommission – nach „wechselvoller Vorgeschichte“ – einen Vorschlag für eine Richtlinie über die nachhaltigkeitsbezogenen Sorgfaltspflichten von Unternehmen („Corporate Sustainability Due Diligence“-Richtlinie; „CSDD-Richtlinienentwurf“), der in Wissenschaft und Praxis viel Aufmerksamkeit erregt und innerhalb kürzester Zeit eine breite Diskussion angestoßen hat.

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Der Fokus liegt dabei in erster Linie auf den in Art. 4-11 CSDD-Richtlinienentwurf enthaltenen Regelungen zur Einrichtung eines Risikomanagementsystems zum Zwecke der Identifikation, Prävention, Beendigung und Wiedergutmachung negativer Auswirkungen unternehmerischer Aktivitäten auf Menschenrechte und Umwelt sowie auf der in Art. 15 CSDD-Richtlinienentwurf geregelten Pflicht zur Festlegung eines Plans, mit dem die betroffenen Unternehmen „sicherstellen, dass das Geschäftsmodell und die Strategie des Unternehmens mit dem Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft und der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5°C gemäß dem Übereinkommen von Paris vereinbar sind“. Auch die Unterschiede zu dem Anfang kommenden Jahres in Kraft tretenden Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz wurden bereits vielfach illustriert.

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Daneben enthält der Richtlinienvorschlag – „fast schon versteckt am Ende“ – eine Regelung, die (jedenfalls potentiell) „an den Grundfesten des Gesellschaftsrechts“ rührt: Art. 25 Abs. 1 CSDD-Richtlinienentwurf. Hiernach haben die Mit- AG 2022, 634gliedstaaten sicherzustellen, „dass die Mitglieder der Unternehmensleitung [...] bei Ausübung ihrer Pflicht, im besten Interesse des Unternehmens zu handeln, die kurz‑, mittel- und langfristigen Folgen ihrer Entscheidungen für Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen, gegebenenfalls auch die Folgen für Menschenrechte, Klimawandel und Umwelt“. In Erwägungsgrund 63 heißt es hierzu:

„In allen nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten haben die Mitglieder der Unternehmensleitung eine Sorgfaltspflicht gegenüber dem Unternehmen. Um sicherzustellen, dass diese allgemeine Pflicht in einer Weise verstanden und angewandt wird, die den mit dieser Richtlinie eingeführten Sorgfaltspflichten entspricht und mit diesen im Einklang steht, und dass die Mitglieder der Unternehmensleitung bei ihren Entscheidungen Nachhaltigkeitsaspekte systematisch berücksichtigen, sollte in dieser Richtlinie die allgemeine Sorgfaltspflicht der Mitglieder der Unternehmensleitung, im besten Interesse der Gesellschaft zu handeln, in harmonisierter Weise klargestellt werden, indem festgelegt wird, dass die Mitglieder der Unternehmensleitung die in der Richtlinie 2013/34/EU genannten Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigen müssen, gegebenenfalls einschließlich der Menschenrechte, des Klimawandels und der Umweltauswirkungen, auch in kurz‑, mittel- und langfristigen Zeithorizonten. Diese Klarstellung macht keine Änderung bestehender nationaler Unternehmensstrukturen erforderlich.“

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Die Formulierung in Erwägungsgrund 63 erweckt zunächst den Eindruck, als seien „System(um)brüche im [mitgliedstaatlichen] Gesellschaftsrecht weder intendiert noch erforderlich“. Und in der Tat kennt das deutsche Gesellschaftsrecht mit der Organpflicht zur Orientierung am Unternehmens- bzw. Gesellschaftsinteresse so etwas wie eine allgemeine Pflicht der Mitglieder der Unternehmensleitung, im besten Interesse der Gesellschaft zu handeln. Ob und inwieweit jedoch dieses Unternehmensinteresse Gemeinwohlbelange wie Nachhaltigkeit, Menschenrechte, Klimaschutz und Umwelt als solche (also unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Bedeutung im Rahmen konkreter unternehmerischer Entscheidungen) miteinschließt, ist eine Frage, „um die seit Jahrzehnten gestritten wird“. Ohne Einschränkungen wird sie allenfalls von den Vertretern einer „interessenpluralistischen Zielkonzeption“ bejaht. Aber selbst diese sind bislang eher vorsichtig damit, hieraus (ggf. haftungsbewehrte) Pflichten zur Berücksichtigung oder gar aktiven Verfolgung entsprechender Gemeinwohlbelange abzuleiten. Herrschend dürfte vielmehr die Ansicht sein, dass die Unternehmensleitung Belange des Gemeinwohls (jenseits konkreter fachrechtlicher Pflichten, z.B. im Umweltschutzrecht) zwar (unter bestimmten Voraussetzungen und in gewissen Grenzen) zu Lasten der Aktionärsinteressen berücksichtigen oder verfolgen darf, dies jedoch nicht muss. Hiervon abweichend können die Aktionäre die Unternehmensleitung in der Satzung (ungeachtet des gesetzlichen Regelfalls) auf die Verfolgung eines Shareholder Value-Konzepts verpflichten und damit in der Verfolgung externer Gemeinwohlbelange beschränken. Dass es sich bei Art. 25 Abs. 1 CSDD-Richtlinienentwurf (jedenfalls in Bezug auf Deutschland) tatsächlich nur um eine „harmonisierende Klarstellung“ – und nicht um eine grundlegende Neuausrichtung der gesetzlichen Zielkonzeption von Kapitalgesellschaften „durch die Hintertür“ – handelt, ist vor diesem Hintergrund keineswegs gesichert.

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Peter Hommelhoff hat bereits im Jahr 2015 – der heutigen Debatte weit voraus – eine „verwirrend verdeckte“ Intention des europäischen Gesetzgebers zur Neuausrichtung der Unternehmensverfassung (zumindest großer Aktiengesellschaften) und zur Erweiterung der Handlungspflichten der Unternehmensleitung ausgemacht und schon aus der (Umsetzung der) Richtlinie 2014/95/EU („Corporate Social Responsibility“-Richtlinie; „CSR-Richtlinie“), später zusätzlich aus der Neufassung des § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG, eine entsprechende Verschiebung der normativen Zielkonzeption börsennotierter Aktiengesellschaften hergeleitet. Vor diesem Hintergrund möchte die folgende Untersuchung nach einer knappen Darstellung des derzeitigen Meinungsbildes zur aktienrechtlichen Zielkonzeption (dazu II.; Rz. 6 ff.) die Vorgabe des Art. 25 Abs. 1 CSDD-Richtlinienentwurf einer näheren Betrachtung unterziehen und in ihrer Bedeutung und Tragweite für die normative Zielkonzeption des deutschen Aktienrechts beleuchten (dazu III.; Rz. 11 ff.). Ein kurzes Fazit schließt sich an (dazu IV.; Rz. 23).

II. Aktienrechtliche Zielkonzeption
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In der Debatte über die gesetzliche Zielkonzeption der Aktiengesellschaft stehen sich im Wesentlichen zwei Ansätze mit jeweils weiteren Verästelungen gegenüber: auf der einen Seite der sog. Shareholder Value-Ansatz, auf der anderen Seite die „interessenpluralistische“ Zielkonzeption. Freilich nähern sich die beiden Standpunkte im Lichte der zunehmenden Verschränkung von Wirtschaftlichkeit und Gemeinwohl in der Unternehmenspraxis an. Dass (Groß-)Unternehmen vor dem Hintergrund eines wachsenden gesellschaftlichen Bewusstseins für Nachhaltigkeit und (weltweite) soziale Gerechtigkeit im Wettbewerb um Kunden, Arbeitnehmer und insbesondere auch um Anleger vielfach bereits aus wirtschaftlichen Gründen dazu gezwungen sind, Gemeinwohlbelange in ihre unternehmerischen Entscheidungen einfließen zu lassen (und dies auch tun), wird heute im Ausgangspunkt nicht...

 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 13.09.2022 09:53
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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