Aktuell in der AG
Das Auskunfts- und Rederecht nach dem Gesetz zur dauerhaften Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften - Der große Wurf oder an den Bedürfnissen der Praxis vorbei? (Franzmann/Rothweiler, AG 2022, 809)
Seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Einführung virtueller HV von Aktiengesellschaften und Änderungen genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften verfügt das Aktiengesetz erstmalig über eine Regelung zur Durchführung virtueller HV. Unter Geltung des COVMG war einer der Hauptkritikpunkte an dem Format der virtuellen HV die massive Beschränkung des Auskunfts- und Rederechts der Aktionäre, weil Fragen nach der gesetzlichen Grundkonzeption nur vorab eingereicht werden sollten und Redebeiträge vom Gesetz gar nicht vorgesehen waren. Mit der Neuregelung unternimmt der Gesetzgeber den Versuch, den Aktionären die Ausübung ihres Auskunfts- und Rederechts im gleichen Umfang zu gestatten wie in der klassischen Präsenz-HV. Der Beitrag untersucht, ob die Neuregelungen zum Auskunfts- und Rederecht geeignet sind, die virtuelle HV als eine echte Alternative zur Präsenz-HV zu etablieren oder aber an den Bedürfnissen der Praxis vorbeigehen.
I. Einleitung
II. Auskunfts- und Rederecht in der Präsenz-HV
1. Mündlichkeitsprinzip
2. Einschränkung des Auskunftsrechts
III. Auskunfts- und Rederecht in der virtuellen HV nach dem COVMG
1. Ausgangslage
2. HV-Saison 2021 und 2022: virtuelle HV mit Fragerecht
3. Gelebte HV-Praxis
IV. Auskunfts- und Rederecht in der virtuellen HV nach vHV‑G
1. Stellungnahmerecht, § 130a Abs. 1 Nr. 6 AktG
a) Frist und Umfang der Stellungnahmen
b) Form der Stellungnahmen
2. Auskunftsrecht in der virtuellen HV, § 118a Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AktG
a) Grundvariante A: Fragen müssen unmittelbar in der virtuellen HV gestellt werden
aa) Parallele Kommunikationskanäle
bb) Angemessene Beschränkungsmöglichkeit
cc) Vorabbeschränkung durch Versammlungsleiter
b) Abwandlung von Grundvariante A: Fragen können nur im Wege der Videokommunikation gestellt werden
c) Grundvariante B: Vorabeinreichung von Fragen
aa) Vorabveröffentlichung der Antworten
bb) Praktische Nachteile der Vorabveröffentlichung
cc) Auskunftsverweigerungsrecht des Vorstands
3. Nachfragerecht und Fragen zu neuen Sachverhalten
a) Nachfragen
b) „Neue“ Fragen
c) Angemessene Beschränkung des Nachfragerechts
4. Rederecht in der virtuellen HV
a) Redemöglichkeit per Videokommunikation
b) Beschränkung des Rederechts
V. Erhöhtes Risiko von Anfechtungsklagen
VI. Kritische Würdigung aus Sicht der Praxis
1. Zwei Gestaltungsformen ohne Zusatznutzen
2. Präsenz-HV in virtueller Form
3. Wenig attraktive Variante: Vorabeinreichung von Fragen
4. Fazit: Eine verpasste Chance
I. Einleitung
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Am 26.7.2022 ist das Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften im Bundesgesetzblatt verkündet worden. Sein Kernbestandteil, die Änderung des Aktiengesetzes mit den namensgebenden Regelungen der sog. virtuellen Hauptversammlung, ist ohne Übergangsfrist am Tag nach Verkündung in Kraft getreten. Zwar setzt § 118a Abs. 1 AktG für die Abhaltung einer Versammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten am Ort der Hauptversammlung, so die gesetzliche Definition einer virtuellen HV, die Anordnung dieser Versammlungsform oder eine darauf gerichtete Ermächtigung des Vorstands in der Satzung der Gesellschaft voraus, die bisher typischerweise nicht vorhanden ist. Allerdings lässt der durch Art. 3 vHV‑G eingefügte § 26n EGAktG bis zum 31.8.2023 die Einberufung einer virtuellen HV auch ohne Satzungsbestimmung durch den Vorstand zu, wofür er in diesem Fall der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf. Damit können Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien und Europäischen Gesellschaften seit dem 27.7.2022 als virtuelle HV nach den neuen Regeln des Aktiengesetzes einberufen und durchgeführt werden.
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Mit der Verkündung des vHV‑G findet eine bemerkenswerte Weiterentwicklung des Aktienrechts ihren vorläufigen Abschluss. Bis zum Beginn der HV-Saison 2020 war das physische Zusammentreffen der Aktionäre an einem Versammlungsort ein konstitutives Merkmal einer Hauptversammlung, das nicht einmal einer besonderen Erwähnung im Gesetz bedurfte, und das Recht der Aktionäre auf physische Teilnahme ein unantastbarer Kernbestandteil ihres Teilnahmerechts. Um angesichts der durch die COVID‑19-Pandemie bestehenden Versammlungsbeschränkungen die Durchführung von Hauptversammlungen überhaupt zu ermöglichen, hat der Gesetzgeber sehr kurzfristig und ohne eine vorhergehende vertiefte Diskussion in Rechtswissenschaft und Praxis mit den Sonderregeln für Hauptversammlungen im Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts‑, Genossenschafts‑, Vereins‑, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID‑19-Pandemie („COVMG“) geradezu handstreichartig ermöglicht, die Hauptversammlung vollständig ohne physische Präsenz der Aktionäre als virtuelle HV durchzuführen. Das Aktiengesetz ermöglichte bis dahin neben der reinen Präsenz-HV nur eine hybride Versammlungsform mit physischer und Online-Teilnahmemöglichkeit, bei der die Form der Online-Teilnahme sehr weitgehend ausgestaltbar ist, mit Blick auf das Recht auf physische Teilnahme am Ort der Hauptversammlung jedoch keine Beschränkungen, wie z.B. eine Begrenzung der Teilnehmerzahl, zulässig sind.
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Mit dem vHV‑G unternimmt der Gesetzgeber den Versuch, die aus der Notsituation geborene virtuelle HV in weiterentwickelter Ausgestaltung dauerhaft im Aktienrecht zu verankern. Das Gesetz verfolgt dabei das Ziel, die virtuelle HV der Präsenz-HV so weit wie möglich anzugleichen und sicherzustellen, dass die Aktionäre „ihre Rechte ebenso und weitestgehend vergleichbar wahrnehmen können wie bei der Präsenzveranstaltung“. Alle Elemente der Präsenz-HV sollen in einer möglichst unveränderten Form in einer virtuellen HV abgebildet werden können. So weitet das vHV‑G vor allem die Anforderungen an das Auskunfts- und Rederecht der Aktionäre in der virtuellen HV sowohl im Vergleich zur bisherigen Rechtslage unter dem COVMG als auch im Vergleich zu dem ursprünglich vorgelegten Referentenentwurf, der sich noch sehr weit an der Ausgestaltung dieser Rechte im COVMG orientiert hatte, erheblich aus.
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Vor allem die Ausgestaltung und Grenzen des Auskunfts- und Rederechts vor dem Hintergrund deren ausschließlicher Ausübung im Wege der elektronischen Kommunikation war und ist das wesentlichste Thema der Auseinandersetzungen um und mit der virtuellen HV seit Inkrafttreten des COVMG und hat auch die Diskussion im Gesetzgebungsverfahren für das vHV‑G beherrscht. Werden das Auskunfts- und Rederecht in der virtuellen HV im gleichen Maße gewahrt wie in der Präsenz-HV und bedürfen diese Rechte wegen der andersartigen Rahmenbedingungen und Nutzungsmöglichkeiten einer besonderen, auch einschränkenden Ausgestaltung, um eine rechtssichere und funktionsadäquate Durchführung einer virtuellen HV zu ermöglichen? Die Sprecher der Regierungsfraktion FDP und auch der Sprecher der CDU/CSU waren sich vor der Verabschiedung des vHV‑G im Bundestag jedenfalls sicher, mit dem Gesetz die Grundlage für einen Erfolg dieser jetzt dauerhaften Form der virtuellen HV gelegt zu haben.
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Inwiefern die Neuregelungen zum Auskunfts- und Rederecht der Aktionäre allerdings geeignet sind, das Format der virtuellen HV in der Praxis als echte Alternative zur klassischen Präsenz-HV zu etablieren, soll nachfolgend kritisch beleuchtet werden.
II. Auskunfts- und Rederecht in der Präsenz-HV
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Um die Bedeutung und Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelungen zum Auskunfts- und Rederecht der Aktionäre in der virtuellen HV richtig einordnen zu können, soll in einem ersten Schritt ein kurzer Blick auf die Rahmenbedingungen des Auskunftsrechts der Aktionäre in der klassischen Präsenz-HV geworfen werden.
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Nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AktG ist jedem Aktionär unabhängig von der Höhe und Dauer seiner Beteiligung auf dessen Verlangen in der Hauptversammlung vom Vorstand Auskunft über Angelegenheiten der Gesellschaft zu erteilen, sofern sie...
