Aktuell in der AG

Hauptversammlungszustimmung bei einem Haftungsvergleich mit einem Arbeitnehmer? (Scheel/Unmuth, AG 2023, 474)

Möchte eine Aktiengesellschaft einen Vergleich mit einem Arbeitnehmer abschließen, der sämtliche Haftungsansprüche der Gesellschaft gegen den Arbeitnehmer erledigen soll, und hat aus demselben Sachverhalt neben dem Arbeitnehmer auch ein Organmitglied der Gesellschaft seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft verletzt, ist zu beachten, dass sich die vergleichsweise Erledigung darauf auswirken kann, ob und in welcher Höhe die Gesellschaft einen möglichen Organhaftungsanspruch durchsetzen kann. Der Vorstand und Aufsichtsrat sind daher vor Abschluss des Vergleichs verpflichtet zu prüfen, ob § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG anwendbar ist, und falls ja, ob die dort normierten Anforderungen für einen Vergleich eingehalten werden. Der folgende Beitrag erörtert die damit zusammenhängenden Rechtsfragen. Es wird insbesondere dargestellt, in welchen Fällen § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG anwendbar ist und welche Gestaltungen beim Vergleichsabschluss vermeiden, dass diese zusätzlichen Vergleichsvoraussetzungen erfüllt werden müssen.

I. Einleitung
II. „Hinkendes Gesamtschuldverhältnis“ zwischen Arbeitnehmern und Organmitgliedern
III. Gestörtes Gesamtschuldverhältnis aufgrund eines Vergleichs
IV. Lösungskonzepte
V. Relevanz des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG
VI. Gestaltungsvarianten für den Vergleich mit dem Arbeitnehmer

1. Vergleich mit Gesamtwirkung
2. Vergleich mit beschränkter Gesamtwirkung
3. Freistellung vom Innenregress
a) Zurechnung zum Organverhältnis bei unbeschränkter Freistellung
b) Höhenmäßig beschränkte Freistellung
c) Keine Relevanz des Haftungsvermögens
4. Vergleich mit Einzelwirkung
5. Keine Vereinbarung zu Lasten des am Vergleichsabschluss nicht beteiligten Organmitglieds
6. Kombination von beschränkter Gesamtwirkung und Einzelwirkung
VII. Aktive Vertragsgestaltung wegen § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG zu empfehlen
VIII. Praktische Erwägungen zum ggf. drohenden Innenregress

1. Unsicherheit über die Höhe interner Ausgleichsansprüche
2. Vergleichsabschluss bei bereits verjährten Regressansprüchen
3. Verjährungsfrist für den Anspruch nach § 426 Abs. 1 BGB
4. Verjährungsfrist für den Anspruch nach § 426 Abs. 2 BGB
IX. Gestaltungsempfehlung zur Vermeidung einer Anwendbarkeit des § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG
X. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse


I. Einleitung

1
Bei großen Compliance-Fällen stehen beim Schadensregress des betroffenen Unternehmens Organhaftungsansprüche gegen Mitglieder des Vorstands oder des Aufsichtsrats im Mittelpunkt. Immer häufiger werden aber auch Ersatzansprüche gegen leitende Angestellte unterhalb des Vorstands geltend gemacht. Solche Ansprüche können z.B. bei gutverdienenden Investment-Bankern oder D&O-versicherten Compliance Officern wirtschaftlich interessant sein. Selbst wenn solche Regressansprüche wirtschaftlich nicht sehr attraktiv erscheinen, werden Arbeitnehmer bei Vergleichsverhandlungen, insbesondere im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens, häufig verlangen, dass der Vergleich auch etwaige gegen sie bestehende Haftungsansprüche der Gesellschaft erledigt. Bei einer solche Erledigung von Haftungsansprüchen gegen einen Arbeitnehmer sind besondere aktienrechtlichen Hürden zu beachten, wenn

  • (1) der Arbeitnehmer nicht vollkommen nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs von jeglicher Haftung befreit ist,
  • (2) neben dem Arbeitnehmer auch ein Organmitglied der Gesellschaft seine Pflichten gegenüber der Gesellschaft verletzt hat, und
  • (3) die beiden gesamtschuldnerisch haften.

2
In einem solchen Fall könnte sich ein vollständiger oder teilweiser Verzicht der Gesellschaft auf den Haftungsanspruch gegen den Arbeitnehmer auch auf einen Organhaftungsanspruch der Gesellschaft auswirken. Es stellt sich daher insbesondere die hier untersuchte Frage, ob beim Abschluss des Haftungsvergleichs mit dem Arbeitnehmer § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG
zur Anwendung gelangt, u.a. mit der Folge, dass die Hauptversammlung dem Vergleich zustimmen müsste.

II. „Hinkendes Gesamtschuldverhältnis“ zwischen Arbeitnehmern und Organmitgliedern
3
Haben sich ein Arbeitnehmer und ein Organmitglied gegenüber der Gesellschaft, für die sie tätig sind, aus demselben Sachverhalt haftbar gemacht, und ist der Arbeitnehmer nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs nicht vollständig von jeglicher Haftung befreit, haften der Arbeitnehmer und das Organmitglied grundsätzlich gesamtschuldnerisch.

4
Die Gesamtschuld führt grundsätzlich dazu, dass die Gesellschaft als Gläubigerin von sämtlichen Gesamtschuldnern die Zahlung des vollen Schadensbetrags verlangen kann. Für diese Inanspruchnahme seitens der geschädigten Gesellschaft ist rechtlich bedeutungslos, wie hoch der Haftungsanteil des in Anspruch Genommenen im Innenverhältnis zu den anderen Haftungsschuldnern ist. Befriedigt der in Anspruch Genommene die Gesellschaft, kann er verlangen, dass ihm der seinen Haftungsanteil übersteigende Betrag im Wege des Innenregresses von den anderen Gesamtschuldnern erstattet wird.

5
Diese Grundsätze gelten bei einer zwischen einem Organmitglied und einem Arbeitnehmer bestehenden Gesamtschuld nur sehr eingeschränkt. Diese Einschränkung wird im Schrifttum treffend als sog. „hinkende“ (Teil-) Gesamtschuld bezeichnet. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Gesellschaft vom Arbeitnehmer nicht den vollen Schadensbetrag verlangen kann:

6
Nimmt die Gesellschaft den Arbeitnehmer in Anspruch, muss sie sich den Verursachungsbeitrag des Organmitglieds gem. §§ 254, 31 BGB anrechnen lassen. Das hat zur Folge, dass die Gesellschaft den Arbeitnehmer, selbst wenn dessen Fehlverhalten für den gesamten Schaden (mit)ursächlich war, nur für seinen Verursachungsbeitrag in Anspruch nehmen kann, nicht aber für den Verursachungsbeitrag des Organmitglieds.

7
Ist der Arbeitnehmer nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs (zumindest zum Teil) privilegiert, kann die Gesellschaft den Arbeitnehmer darüber hinaus auch in Höhe der Privilegierung nicht in Anspruch nehmen. Die Gesellschaft kann daher von einem Arbeitnehmer möglicherweise – sogar in zweifacher Hinsicht – nicht den vollen Schadensbetrag verlangen.

8
Auch von einem Organmitglied kann nicht immer der volle Schadensbetrag verlangt werden: Zwar kann das Organmitglied – anders als der Arbeitnehmer – kein Mitverschulden gem. § 254 BGB einwenden. Ist der Arbeitnehmer aber nach den Grundsätzen des innerbetrieblichen Schadensausgleichs (zumindest zum Teil) privilegiert, muss die Gesellschaft von ihrem Anspruch einen Abzug in Höhe der Privilegierung des Arbeitnehmers nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld akzeptieren.

III. Gestörtes Gesamtschuldverhältnis aufgrund eines Vergleichs
9
In Fällen, in denen einer von mehreren Schuldnern, die gesamtschuldnerisch haften, aufgrund gesetzlicher Regelungen oder aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung mit seiner Haftung privilegiert ist – insbesondere, wenn er gar nicht oder nur in der Höhe limitiert haftet –, spricht man von einer „gestörten Gesamtschuld“. Im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Organmitglied kann...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.07.2023 12:56
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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