Aktuell in der AG
ESG - Zündstufen zum Megatrend (Koch, AG 2023, 553)
Im Mai 2023 hat Holger Fleischer in der Juristenzeitung ein neues Forschungsvorhaben vorgestellt, das darauf abzielt, eine „Kartographie der Kontroversen“ auf dem spezifischen Kampfschauplatz des Gesellschaftsrechts zu entwickeln (Fleischer, JZ 2023, 365 ff.). Dabei soll anhand einiger besonders prominenter Auseinandersetzungen aufgezeigt werden, wie sich die Diskurskultur über die Jahrzehnte fortentwickelt hat und welche Aufmerksamkeitszentren dabei im Mittelpunkt standen. Unter diesen Debatten gibt es eine, die sich nicht nur als besonders langwierig herausgestellt hat, sondern die auch am einflussreichsten bis in die jüngste Zeit fortwirkt, nämlich die Auseinandersetzung um das Leitungsermessen. Sie dominiert derzeit im modernen Gewand der Nachhaltigkeitsdebatte unter dem Schlagwort ESG nicht nur die unternehmerische Praxis, sondern auch den wissenschaftlichen Diskurs. Angesichts dieser besonderen zeitgenössischen Relevanz soll als erste Kostprobe des weiter gefassten Forschungsvorhabens im Folgenden dargestellt werden, in welchen Etappen sich diese Wirkungsmacht entfaltet hat, aus welchen Quellen sich ihr außergewöhnlicher Erfolg speist und wie sie die heutige Unternehmenswirklichkeit prägt.
I. Einführung
II. ESG-Debatte in der Traditionslinie der Diskussion um das Leitungsermessen
1. Vom Leitungsermessen zur Corporate Social Responsibility
2. Annäherung der Ergebnisse
III. Menschenrechtsbezogene Sorgfaltspflichten
1. Thematische Fokussierung
2. Dogmatische Konstruktionsversuche
3. Brückenschlag zur Compliance
IV. Erste gesetzliche Ansätze: die Nachhaltigkeitsberichterstattung
1. Gesetzliche Inhalte
2. Rechtliche Mechanismen und Auswirkungen
3. Nebenwirkungen
V. Die begriffliche Neuausfüllung der Nachhaltigkeitsvorgabe in § 87 Abs. 1 Satz 2 AktG
VI. Ausweitung der Kampfzone: die Eigentümer und ihre Helfer
1. Einführung der §§ 134a ff. AktG
2. Offenlegungs-VO, Taxonomie-VO, MiFID II
VII. Imponderabilien: Verschiebungen in der politischen Stimmungslage
VIII. Von der Ermessensoption zur Berücksichtigungspflicht
IX. Bestandsaufnahme in Gestalt einer Momentaufnahme
I. Einführung
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„Tsunami“, „Zeitenwende“, „Megatrend“, „Revolution“, „Leitbegriff der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts“ – die deutsche Sprache scheint an Superlativen zu arm zu sein, um die Wirkungsmacht zu beschreiben, mit der die Nachhaltigkeitsdebatte das deutsche Gesellschaftsrecht durchpflügt. Über die Phase des Streits um das „Ob“ ist die Nachhaltigkeitsdiskussion schon weit hinausgegangen. Stattdessen hat sich ein großer Nachhaltigkeitskonsens ausgebreitet, wofür sicherlich auch die Ubiquität des Begriffs durchaus hilfreich war (ausführlich dazu noch in Rz. 35). Zwar erhält in den USA auch die Anti-ESG-Bewegung immer stärkere politische Unterstützung, aber in Deutschland scheint diese Skepsis derzeit jedenfalls in offiziellen Verlautbarungen (ganz anders hinter vorgehaltener Hand) noch nicht angekommen zu sein. Wissenschaftliche Debatten entzünden sich nur noch an nachgelagerten Fragestellungen. Die Legitimität des Nachhaltigkeitsanliegens als (weitere) Richtschnur unternehmerischen Handelns wird dagegen derzeit in Deutschland kaum noch in Frage gestellt.
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Dieser umfassende juristische und gesamtgesellschaftliche Konsens hat zur Folge, dass beim Thema Nachhaltigkeit von einer Debatte im klassischen Sinn eigentlich nur noch in der Rückschau gesprochen werden kann. Aus heutiger Sicht ist es nicht mehr so sehr das argumentative Hin und Her zwischen verschiedenen Meinungsblöcken, das dieser Diskussion ihr besonderes Gepräge gibt, sondern das eigentliche Faszinosum liegt in der außerordentlichen Vehemenz, mit der sie das gesellschaftsrechtliche Denken durchdringt. Aufgabe der folgenden Darstellung ist es deshalb vorrangig nicht, dem klassischen juristischen Diskussionsdreiklang aus herrschender Meinung, Mindermeinung und vermittelnder Meinung nachzuhorchen und die Auffassungswelt der meinungsführenden Debattanten auszuleuchten. Stattdessen sind bei diesem Thema vielmehr die unterschiedlichen Zündstufen von Interesse, derer es bedurfte, um der Nachhaltigkeit die Relevanz zu verleihen, die ihr heute unisono beigemessen wird. An ihnen soll sich die folgende Darstellung orientieren. Dabei ist allerdings schon vorab eine klaffende Unvollständigkeit einzuräumen: ESG ist ein globaler Trend, der dementsprechend nur sehr unzureichend dargestellt wird, wenn er ausschließlich aus der nationalen Froschperspektive geschildert wird. Trotzdem wird sich die folgende Darstellung im Wesentlichen auf diesen nationalen Debattenverlauf beschränken und die internationalen Aspekte nur als Impulse für die deutsche Diskussion beleuchten. Selbstverständlich muss daraus zwangsläufig eine erhebliche Unvollständigkeit resultieren, aber die Darstellung unterwirft sich insofern den Zwängen des Formats, das für eine globale Sicht keinen hinreichenden Raum lässt.
II. ESG-Debatte in der Traditionslinie der Diskussion um das Leitungsermessen
1. Vom Leitungsermessen zur Corporate Social Responsibility
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Als erste Besonderheit der nationalen ESG-Diskussion begegnet der Umstand, dass bis heute noch keine rechte Einigkeit darüber besteht, ob es sich eigentlich um eine neue Fragestellung handelt oder um eine recht alte, die lediglich in einem etwas zeitgeistigeren Gewand neu vermarktet wird. Denn wer immer sich mit der Diskussion um Nachhaltigkeit und ESG intensiv auseinandersetzt, stößt doch schnell auf die Einsicht, dass es auch in der Vergangenheit schon eine sehr ähnliche Diskussion gegeben hat, nämlich die um das sog. Leitungsermessen. Auch dabei geht es um das Verhältnis von unternehmerischen Belangen zu sonstigen sozialen Anliegen, doch wurde die Auseinandersetzung seinerzeit noch unter umgekehrten Vorzeichen geführt: Während in den Anfängen ausschließlich darüber diskutiert wurde, ob es dem Vorstand überhaupt gestattet sei, soziale Anliegen zu erfüllen, verschiebt sich der Debattenschwerpunkt heute zunehmend in die Richtung, inwiefern er dazu verpflichtet ist (ausführlich dazu noch Rz. 40
ff.).
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Die Debatte um das Leitungsermessen erlebte erste Höhepunkte bereits in der Weimarer Republik und wurde in den 1980er und 1990er Jahren unter den Schlagworten des Shareholder oder Stakeholder Value-Ansatzes mit verstärkt ökonomischen Argumentationsfiguren wieder aufgegriffen. Dabei kann man auch aus der Binnensicht dieser Debatte das Bild von einer weiteren „Zündstufe“ verwenden. Es lässt sich nämlich im Verlauf dieser Auseinandersetzung das auch in anderen Zusammenhängen immer wieder begegnende Phänomen beobachten, dass eine rechtliche Diskussion einen ganz anderen Drive bekommt, sobald man sie mit einem schmissigen Etikett versieht. Dieses Etikett trägt hier den Namen „Corporate Social Responsibility“, das schon auf den ersten Blick etwas flotter daherkommt als die etwas spröd verwaltungsrechtlich angehauchte Terminologie des „Leitungsermessens“.
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Dieses Rebranding hat der Diskussion einen kräftigen neuen Impetus gegeben. Zugleich ist es unter diesem Etikett gelungen, dieses Thema von einer rein juristisch-akademischen Debatte in die Unternehmenspraxis hineinzukatapultieren. Dort wurde das Schlagwort der Corporate Social Responsibility nämlich schnell aufgegriffen und in den folgenden Jahren zunehmend in der Unternehmenskultur größerer Gesellschaften verankert. Mit einer solchen Verankerung erhält das, was bislang nur eine juristische Kategorie war, eine neue Qualität: Die Idee mutiert zu einer unternehmerischen Realität, die man dauerhaft nicht mehr ignorieren kann, weil sie beständig neue Fragen aufwirft, die aus der Praxis wieder in die wissenschaftliche Debatte zurückkehren, auch wenn diese längst erlahmt ist.
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Als Ergebnis dieser Entwicklung umschrieb Peter Mülbert schon im Jahr 2009 Corporate Social Responsibility als „neuen globalen Megatrend“. Dieser Trend war aber – und das ist ein durchaus bemerkens- und bedenkenswerter Umstand – eine Entwicklung, die sich von gesetzlichen Vorgaben und juristischen Debatten losgelöst hatte. Die Unternehmen erstellten vielmehr aus eigener Initiative CSR-Berichte, räumten dem Thema CSR in ihren Internetauftritten große Aufmerksamkeit ein, riefen das Forum Nachhaltige Entwicklung der Deutschen Wirtschaft e.V. (ecosense) ins Leben und schufen über ihre Interessenverbände BDI und BDA gemeinsame Internetportale, um dort ihr soziales Engagement darzustellen. Viele Jahre später hat Wolfgang Schön daran erinnert, dass es in der Tat auch so geht und dass der Gesetzgeber durchaus hätte erwägen können, das Thema Nachhaltigkeit getrost den Marktkräften zu überlassen, die sich ihm angesichts des verbreiteten öffentlichen Bewusstseinswandels nicht hätten entziehen können. Man sollte deshalb diese Entwicklungslinie jenseits aller juristischen Debatten nicht aus den Augen verlieren, weil sie eindrucksvoll belegt, dass es nicht nur Regulierung ist, die Veränderungen anzustoßen vermag.
2. Annäherung der Ergebnisse
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So erfolgreich sich der Gedanke der Corporate Social Responsibility in der Unternehmenswirklichkeit durchsetzte, so sehr ließ doch in der Folgezeit der Schwung nach, mit dem die akademische Debatte um das Leitungsermessen geführt wurde. Ein solch nachlassender Diskussionselan liegt bis zu einem gewissen Maße in der Natur einer jeden akademischen Debatte. Irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem sich jeder geäußert hat, der zu dem Thema – tatsächlich oder vermeintlich – etwas zu sagen hat, und die Argumente ausgetauscht sind. Es bedarf dann eines neuen Impulses, am besten einer Gerichtsentscheidung, vielleicht sogar einer höchstrichterlichen, um...
