Aktuell in der AG

Das polnische Recht der Gesellschaftsgruppe als enabling law - Impulse für den Konzernrechtsdialog in Europa (Hommelhoff, AG 2022, 513)

Das jüngst im polnischen Handelsgesellschaftsgesetzbuch kodifizierte Recht der Gesellschaftsgruppe regelt über den qualifizierten Außenseiterschutz in der konzernabhängigen Gesellschaft hinaus vor allem auch das Organisationsrecht der Konzernverbindung. So knüpft dies Gruppenrecht die Anerkennung des Konzerninteresses an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen und grenzt seinen Vorrang vor dem Eigeninteresse der konzernabhängigen Gesellschaft differenziert ab. Hinsichtlich der Führungsmöglichkeiten und des Außenseiterschutzes wird zwischen Gesellschaften im Alleinbesitz (Liquiditätsschutz) und denen mit Minderheitsgesellschaftern (zusätzlicher „Rozenblum“-Mechanismus) unterschieden. Trotz seiner (verfehlten) Orientierung allein am Leitbild des zentralistischen Einheitskonzerns scheint das neue Gruppenrecht in Polen mit seinem funktionalen Abgleich als „enabling and protecting law“ geeignet, die Bemühungen um ein binnenmarktadäquates Konzernrecht für grenzüberschreitend aktive Konzerne zu beleben, aber auch die Fortschreibung des Konzernrechts in Deutschland.

I. Das Konzernorganisationsrechtliche
II. Der Beitrittsbeschluss
III. Die Weisung im Gruppeninteresse

1. Der kooperativ erschlossene Weisungsinhalt
2. Kontrolle und Widerspruch
3. Kontrollmaßstäbe
4. Würdigung
IV. Gruppen- und Tochtereigeninteresse
V. Zur Rechtmäßigkeit des einfachen faktischen Konzerns
VI. Das Konzernleitbild des polnischen Gruppenrechts
VII. Die Impulse aus dem polnischen Gruppenrecht



I. Das Konzernorganisationsrechtliche
1
Die aus mehreren rechtlich selbständigen Gesellschaften zusammengesetzte Gruppe, die Gesellschaftsgruppe (oder in deutscher Terminologie: der Konzern) ist die modernste Form der Unternehmensorganisation, insbesondere im europäischen Binnenmarkt, um die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 Unterabs. 1 Satz 2 AEUV) über rechtlich selbständige Tochter- und Enkelgesellschaften in anderen Mitgliedstaaten auszuüben. Trotz seiner Modernität und trotz seiner weltweiten Verbreitung vieltausendfach finden sich bloß in ganz wenig Staaten gesetzliche Bestimmungen, um die Organisation der Konzerne zu regeln; für sie fehlt das enabling law, das infrastrukturelle Fundament im Unternehmensrecht. Dies hat seinen Grund im jahrzehntelang eingeengten Blick auf das Konzernrecht als qualifiziertes Schutzrecht zugunsten der Gläubiger und Minderheitsgesellschafter in der konzernabhängigen Tochter- oder Enkelgesellschaft. Dieser Außenseiterschutz vor konzernspezifischen Gefahren lässt sich nach der Einschätzung der meisten Staaten mit dem normalen Instrumentarium des Gläubiger- und Minderheitenschutzes bewerkstelligen, notfalls über dessen konzernbezogene Anpassung.

2
Umso größere Aufmerksamkeit verdient das neue Recht der Gesellschaftsgruppen in Polen (Art. 211 ff. KSH), das unlängst verabschiedet worden ist. Zwar liefert es mit der konditionierten Ausfallhaftung der herrschenden Gesellschaft gegenüber den Gläubigern der abhängigen (Art. 2114 KSH) und mit der Wertminderungshaftung zugunsten der Minderheitsgesellschafter (Art. 2113 KSH) sowie vor allem mit der kodifizierten „Rozenblum“-Formel (Art. 212 § 3 Ziff. 3 und 4 KSH) gewichtige Anregungen für den deutsch-polnischen Dialog zum Konzernschutzrecht. Noch bedeutsamer jedoch sind die organisatorischen Neuregelungen im polnischen Recht, die unverkennbar darauf abzielen, Gesellschaftsgruppen, also Konzernen ein festes Organisationsrecht zu verschaffen, mithin als enabling law einzuordnen sind:

  • der Beschluss der Gesellschafterversammlung in der abhängigen Gesellschaft, diese am Konzern zu beteiligen (Art. 211 § 2 KSH);
  • das Recht der herrschenden Gesellschaft, der Geschäftsleitung der konzernverflochten abhängigen bindende Weisungen zu erteilen, und die Vorgaben zur inhaltlichen Ausgestaltung einer solchen Weisung (Art. 212 § 1 und § 3 KSH);
  • die Anerkennung des Konzerninteresses oder in der Sprache des polnischen Rechts: des Gruppeninteresses (Art. 211 § 1 KSH);
  • die Kontrolle der erteilten Weisung durch die Geschäftsleitung der Konzerntochter und die benannten Voraussetzungen für die Verweigerung, eine Weisung auszuführen (Art. 214 § 1 und § 2 KSH).

3
Mit Blick auf diese konzernorganisatorischen Neuerungen sollen hier sechs Fragenkreise erörtert werden, mit denen das polnische Recht der Unternehmensgruppen die Konzernrechtsdebatte in ihrem Fortgang auf europäischer, aber auch auf deutscher Ebene voranbringen könnte:

II. Der Beitrittsbeschluss
4
Als erstes zum Gesellschafterbeschluss in der abhängigen Gesellschaft, sich an der Gesellschaftsgruppe unter der benannten herrschenden Gesellschaft zu beteiligen (Art. 211 § 2 KSH). Diese muss die einseitige Beitrittserklärung nicht annehmen, ist jedoch schon aufgrund ihrer Herrschaftsmacht maßgeblich am Zustandekommen des Beteiligungsbeschlusses in der abhängigen Gesellschaft beteiligt, wenn nicht gar bei ihrer qualifizierten Stimmenmehrheit von mindestens drei Vierteln die Alleinentscheiderin.

5
Die Beteiligung der abhängigen Gesellschaft an der Gesellschaftsgruppe muss registriert und öffentlich bekannt gemacht werden (Art. 211 § 3 Satz 1 KSH). Erst dann steht der herrschenden Gesellschaft das konzernorganisatorische Instrumentarium zur Verfügung (Art. 211 § 3 Satz 3 KSH): vor allem ihr Weisungsrecht im Gruppeninteresse (Art. 212 § 1 KSH) und ihr konzernspezifisches Informationsrecht gegenüber der Tochter- oder Enkelgesellschaft (Art. 216 § 1 KSH). Verlautbart werden muss sogar die Konzernzugehörigkeit einer abhängigen Gesellschaft im Alleinbesitz der herrschenden. Offenbar will der polnische Gesetzgeber für jede Form der Konzernierung Transparenz gegenüber der Allgemeinheit einschließlich der Kreditgeber, Zulieferanten und Abnehmer herstellen. Im Vergleich zur weit in Deutschland verbreiteten GmbH-Tochter im Alleinbesitz der Mutter ist diese Transparenz ein rechtsqualitatives Mehr von beachtlichem Gewicht.

6
Zum sonstigen Inhalt der Beitrittserklärung gibt das polnische Gruppenrecht (arg. Art. 211 § 2 KSH) nichts vor, also weder zur Position der abhängigen Gesellschaft innerhalb der Gruppe und zu ihrer Funktion in dieser, noch zur Struktur der Gesamtgruppe oder zu ihrer Unternehmensstrategie mit Blick auf die künftige Konzerntochter- oder Enkelgesellschaft. Zwar erscheint schon im ersten Artikel des Handelsgesellschaftsgesetzbuches (Art. 1 Ziff. 51 KSH) die gemeinsame wirtschaftliche Strategie als prägender Bestandteil des gemeinsamen Interesses, also des Gruppeninteresses. Aber diese ist nach dem klaren Wortlaut des Art. 211 § 2 KSH nicht Gegenstand des Beitritts-Beschlusses, sondern erst der Weisung der herrschenden Gesellschaft nach Art. 212 § 3 Ziff. 2 KSH. Mit der Veröffentlichung der Konzernzugehörigkeit werden daher weder Konzerninterna aufgedeckt, noch die Notwendigkeit begründet, beim beabsichtigten Wechsel der Konzernstrategie über eine Neufassung des Beitrittsentscheids in der abhängigen Gesellschaft, der Tochter oder Enkelin durch deren Gesellschafter zu beschließen.

7
Nach dem Konzept des Gruppenrechts in Polen hängt es somit vom Gesellschafterentscheid in der abhängigen Gesellschaft ab, ob die herrschende mit ihr in einer Konzernverbindung steht und das konzernspezifische Leitungsinstrumentarium, das enabling law des polnischen Rechts, nutzen kann. Aus allein und unmittelbar eigener Rechtsmacht kann sich die herrschende Gesellschaft keine Konzernleitungsbefugnis erschließen; diese muss über die...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 02.08.2022 10:25
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite