Aktuell in der AG

Zur Anwesenheitspflicht der Mitglieder des Aufsichtsrats in der virtuellen Hauptversammlung (Ahlswede, AG 2023, 14)

Hält eine Aktiengesellschaft die Hauptversammlung als eine virtuelle Hauptversammlung nach § 118a AktG ab, statuiert der neu in das Aktiengesetz eingefügte § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG für Mitglieder des Aufsichtsrats eine Anwesenheitspflicht am Ort der Hauptversammlung. Etwas anderes gilt nach § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG, sofern die Anwesenheit der Mitglieder des Aufsichtsrats im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen darf. In der Praxis stellt sich die Frage, wie diese Anwesenheitspflicht der Mitglieder des Aufsichtsrats in der virtuellen Hauptversammlung konkret auszugestalten ist. Der nachfolgende Beitrag zeigt, dass es nicht zwingend erforderlich ist, die Mitglieder des Aufsichtsrats während der virtuellen Hauptversammlung im selben Raum und auf einer Bühne mit den Mitgliedern des Vorstands zu platzieren und dass die Satzung nach § 118a Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG die Abhaltung der Hauptversammlung als virtuelle Hauptversammlung als Grund für die Zuschaltung von Mitgliedern des Aufsichtsrats im Wege der Bild- und Tonübertragung vorsehen kann.

I. Einleitung
II. Anwesenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern in der virtuellen Hauptversammlung nach § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG

1. Wortlaut
2. Historie
3. Systematik
4. Sinn und Zweck der Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern an der virtuellen Hauptversammlung
5. Keine nennenswerten Rechtsfolgen bei der Verletzung der Anwesenheitspflicht
III. Befreiung von Aufsichtsratsmitgliedern von der Anwesenheitspflicht in der virtuellen Hauptversammlung im Wege einer Satzungsregelung
IV. Zusammenfassung


I. Einleitung

1
Durch das Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften wurde eine dauerhafte Möglichkeit zur Abhaltung von virtuellen Hauptversammlungen in das Aktiengesetz eingeführt. Die neue Form der virtuellen Hauptversammlung wurde in § 118a AktG und weiteren Regelungen durch den Gesetzgeber normiert. Im Hinblick auf die Anwesenheit der Aufsichtsratsmitglieder während der virtuellen Hauptversammlung enthält § 118a Abs. 2 AktG folgende Regelung:

„Die Mitglieder des Vorstands sollen am Ort der Hauptversammlung teilnehmen. Gleiches gilt für die Mitglieder des Aufsichtsrats, sofern deren Teilnahme nicht nach § 118 Abs. 3 Satz 2 im Wege der Bild- und Tonübertragung erfolgen darf.“

2
Der Wortlaut ähnelt § 118 Abs. 3 Satz 1 AktG, der ebenfalls vorsieht, dass Mitglieder des Vorstands und des Aufsichtsrats an einer (physischen) Hauptversammlung teilzunehmen haben. Im Gegensatz zur virtuellen Hauptversammlung nach dem sogenannten COVID‑19-Gesetz, bei der im Hinblick auf die Anwesenheitspflicht von Vorstand und Aufsichtsrat großzügige Ausnahmen angenommen wurden, dürfte nunmehr für die virtuelle Hauptversammlung im Grundsatz also feststehen, dass die Aufsichtsratsmitglieder der Gesellschaft während der virtuellen Hauptversammlung grundsätzlich am Ort der Hauptversammlung anwesend zu sein haben. In der Praxis stellt sich die Frage, ob § 118a Abs. 2 AktG zwingend anordnet, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats während der virtuellen Hauptversammlung im selben Raum und auf einer Bühne mit AG 2023, 15den Mitgliedern des Vorstands zu platzieren sind. Die Frage hat gerade bei Gesellschaften mit großen (mitbestimmten) Aufsichtsräten praktische Bedeutung für die Auswahl von Räumlichkeiten (dazu Rz. 3 ff.). § 118a Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG gestattet es für die virtuelle Hauptversammlung ebenfalls, eine Satzungsregelung vorzusehen, wonach Aufsichtsratsmitglieder in bestimmten Fällen nur im Wege der Bild- und Tonübertragung an der Hauptversammlung teilnehmen. Es stellt sich die Frage, ob in der entsprechenden Satzungsbestimmung die Abhaltung der Hauptversammlung im virtuellen Format als Fallgruppe bestimmt werden darf, um Aufsichtsratsmitglieder im Wege der Bild- und Tonübertragung an der Hauptversammlung teilnehmen zu lassen (dazu Rz. 17 ff.).

II. Anwesenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern in der virtuellen Hauptversammlung nach § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG

1. Wortlaut

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Nach dem Wortlaut des § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG ist es nicht zwingend erforderlich, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft zusammen mit den Mitgliedern des Vorstands der entsprechenden Gesellschaft in einem physisch abgrenzbaren Raum am Ort der Hauptversammlung zusammenkommen müssen. Der Wortlaut von § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG ähnelt dem Wortlaut des § 118 Abs. 3 Satz 1 AktG, der Aussagen über die Anwesenheitspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern in der physischen Hauptversammlung trifft. Danach „sollen“ die Mitglieder des Aufsichtsrats an einer Hauptversammlung teilnehmen. Aus dieser Soll-Vorschrift wird jedoch nach ganz herrschender Meinung in der Literatur eine Organpflicht abgeleitet, an der Hauptversammlung teilzunehmen. Ausnahmen von der Anwesenheitspflicht bestehen nur bei wichtigen Verhinderungsgründen. Dabei bestehen allerdings Unterschiede zwischen Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern hinsichtlich der Bedeutung des Verhinderungsgrundes. Beispielsweise sind Aufsichtsratsmitglieder bereits bei dringenden Dienstgeschäften der hauptberuflichen Tätigkeit befreit, nicht aber Vorstandsmitglieder.

4
§ 118a Abs. 2 AktG, der die Anwesenheitspflicht von Organmitgliedern in der virtuellen Hauptversammlung regelt, stellt ebenso wie § 118 Abs. 3 Satz 1 AktG nicht nur eine Sollvorschrift dar, sondern begründet eine Anwesenheitspflicht der Organmitglieder in der virtuellen Hauptversammlung, sofern keine persönlichen Hinderungsgründe bestehen. Die Anwesenheitspflicht der Organmitglieder ist am Ort der Hauptversammlung zu erfüllen. Dies wird im Gegensatz zu § 118 Abs. 3 Satz 1 AktG in § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG explizit ausgeführt. Ort der Hauptversammlung bedeutet im Fall der virtuellen Hauptversammlung der Ort, von dem die Hauptversammlung übertragen wird, an dem sich die Präsenzteilnehmer der virtuellen Hauptversammlung einfinden und der auch nach § 121 Abs. 3 Satz 1 AktG in der Einberufung Erwähnung finden muss. Der unterschiedliche Wortlaut des § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG gegenüber § 118 Abs. 3 Satz 1 AktG und die Referenzierung auf den „Ort der Versammlung“ deutet dabei an, dass bei einer virtuellen Hauptversammlung nicht die elektronische „Teilnahme“ ausreicht, sondern eine Pflicht zur physischen Teilnahme am „Ort der Hauptversammlung“ besteht. Die explizite Erwähnung in § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG, dass die Anwesenheitspflicht am „Ort der Hauptversammlung“ auszuüben ist, lässt dabei jedoch Spielraum, Aufsichtsratsmitglieder auch in einem Nebenraum des Orts der Hauptversammlung zu platzieren.

2. Historie
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Diesem Verständnis des § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG steht auch nicht dessen Entstehungsgeschichte entgegen. Wie die Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern an der virtuellen Hauptversammlung konkret ausgestaltet sein soll, ergibt sich nicht eindeutig aus den Gesetzesmaterialien. Im Regierungsentwurf zum Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften („Regierungsentwurf“) heißt es:

„Auch in der virtuellen Hauptversammlung sollen die Aktionäre die Mitglieder des Vorstands auf einem Podium in der Versammlung wahrnehmen können. Die Vorstandsmitglieder sollen daher weiterhin physisch präsent sein. Nach [Satz] 2 gilt dies ebenso für die Mitglieder des Aufsichtsrats“.

6
Der Wortlaut trifft keine eindeutige Aussage darüber, ob Aufsichtsratsmitglieder „nur“ präsent zu sein haben oder ebenfalls, wie der Vorstand, auf dem Podium wahrnehmbar sein müssen. Wie der Begriff „Ort der Hauptversammlung“ konkret zu verstehen ist, erläutert der Regierungsentwurf ebenfalls nur ansatzweise. Dem Regierungsentwurf lässt sich gerade nicht entnehmen, dass alle...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 16.01.2023 14:47
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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