Aktuell in der AG

Der Lead Independent Director in deutschen Aufsichtsräten (Holle/Goldmann, AG 2023, 257)

Seit der Hauptversammlungssaison 2021 findet sich in deutschen Aufsichtsräten mitunter der Posten eines sog. Lead Independent Directors. Diesem soll innerhalb des Aufsichtsrats eine hervorgehobene Stellung zukommen. Unter anderem sollen ihm mehrere Ausschussmitgliedschaften sowie besondere Teilhabe- und Koordinierungsrechte zustehen und er soll als Ansprechpartner für Investoren und andere Marktteilnehmer zur Verfügung stehen. Der nachfolgende Beitrag skizziert die Gründe für die Etablierung dieses neuen Akteurs, beleuchtet die ihm in der Praxis bislang zugewiesenen Rechte und Pflichten und lotet aus, inwieweit das Aktiengesetz einem solchen Posten Grenzen setzt.

I. Einführung
1. Der Lead Independent Director als verbreitete Rechtsfigur im ausländischen Recht
2. Erste Lead Independent Directors in deutschen Aufsichtsräten
3. Keine reibungslose Einpassung in das aktienrechtliche Normgefüge
II. Ausgestaltung des Lead Independent Directors in der bisherigen deutschen Rechtspraxis
1. Anforderungsprofil
2. Rechte und Pflichten
III. Grenzziehungen durch das aktiengesetzliche Organisationsgefüge
1. Zulässiges und bewährtes Anforderungsprofil
2. Einführung zusätzlicher Funktionsträger
a) Zulässigkeit
b) Regelungsstandort
c) Schranken
3. Einpassung des Lead Independent Directors in das Organisationsgefüge der Aktiengesellschaft
a) Intraorganbereich
aa) Mitgliedschaft in bestimmten Ausschüssen
bb) Teilnahme an Sitzungen anderer Ausschüsse
cc) Keine originäre Kompetenz zur Sitzungseinberufung und Ergänzung der Tagesordnung
dd) Aufgreifen von Fragen zu den Bereichen Environmental, Social und Governance
ee) Vermittlungsposition bei Streitigkeiten des Vorsitzenden innerhalb des Aufsichtsrats
ff) Durchführung der Selbstbeurteilung
b) Interorganbereich
aa) Vermittlungsposition bei Streitigkeiten des Aufsichtsratsvorsitzenden mit dem Vorstand
bb) Hauptversammlungsleitung bei Verhinderung des Vorsitzenden
c) Außenbeziehungen der Gesellschaft
aa) Einbringung von Stakeholder-Interessen
bb) Investorendialog
IV. Fragwürdiger „Restnutzen“ als Fazit


I. Einführung
1. Der Lead Independent Director als verbreitete Rechtsfigur im ausländischen Recht

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In US-amerikanischen Gesellschaften mit monistischer Struktur war es lange Zeit geübte Praxis, den Chief Executive Officer (CEO) und den Chairman of the Board (Verwaltungsratsvorsitzender) mit ein und derselben Person zu besetzen. Da es der Corporate Governance abträglich ist, wenn Leitung und Kontrolle von derselben Person angeführt werden, fordern interessierte Kreise mittlerweile allerdings verstärkt, die Posten an verschiedene Personen zu vergeben (sog. Independent Chair). Dieser Trend wurde durch eine Neuerung des US-amerikanischen Rechts gestärkt, welches seit 2011 vorsieht, dass börsennotierte Gesellschaften begründen müssen, warum sie sich für oder gegen eine Personalunion von CEO und Chairman of the Board entschieden haben.

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Als vermittelnde Lösung hat sich die Ernennung eines sog. Lead Independent Directors etabliert. Hierbei wird ein unabhängiges Mitglied des Verwaltungsrats, das nicht zugleich Chairman of the Board ist, mit besonderen Rechten und Pflichten ausgestattet, um dem Verwaltungsrat als neutralem „Aufpasser“ mit besonderen Kompetenzen eine größere Eigenständigkeit gegenüber dem CEO zu verschaffen und auf diese Weise die aus der Personalunion resultierenden Schwächen der Corporate Governance auszugleichen. Der unabhängige Direktor soll insbesondere dazu ermächtigt sein, die Sitzungen der unabhängigen Direktoren zu leiten, zwischen den unabhängigen Direktoren und dem Verwaltungsratsvorsitzenden zu vermitteln, selbst eine Verwaltungsratssitzung einzuberufen oder neue Punkte in die Tagesordnung einer bereits einberufenen Sitzung einzufügen, die Selbstevaluation des Verwaltungsrats zu überwachen sowie an der Evaluation des CEO beteiligt zu sein. Dabei leistet die US-amerikanische Gesetzeslage der Einsetzung eines Lead Independent Directors seit dem Jahr 2011 insofern Vorschub, als sie Gesellschaften, die sich für eine Personalunion von CEO und Chairman of the Board entscheiden, verpflichtet, darzulegen, ob ein Lead Independent Director ernannt wird und welche Rolle er bei der Führung des Verwaltungsrats einnimmt. Zuletzt warteten 70 % der im S&P 500 geführten Gesellschaften mit dem Posten eines Lead Independent Directors in ihren Verwaltungsräten auf.

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In anderen Ländern mit monistischer Verwaltungsstruktur ist der Posten eines Lead Independent Directors ebenfalls verbreitet. Vereinzelt ist er gesetzlich ausdrücklich vorgesehen. So gibt Art. 529 septies Abs. 2 des Spanischen Aktiengesetzes vor, dass bei personellem Zusammenfallen des geschäftsführenden Direktors und des Präsidenten des Verwaltungsrats ein koordinierender Direktor zu ernennen ist. Mitunter finden sich auch in den einschlägigen Corporate Governance Kodices Regelungen zu einem Lead Independent Director. Der Schweizer Kodex listet einen Lead Director als einen möglichen Kontrollmechanismus, wenn der Verwaltungsrat entscheidet, dass die Posten des geschäftsführenden Direktors und des Verwaltungsratsvorsitzenden in Personalunion ausgeführt werden sollen. In eine ähnliche Richtung geht der französische Kodex. Der italienische Kodex geht hierüber noch hinaus und empfiehlt zusätzlich auch in denjenigen Situationen einen Lead Independent Director einzuführen, in denen entweder ein kontrollierender Aktionär den Verwaltungsratsvorsitz führt oder aber die Mehrheit der unabhängigen Direktoren einen solchen fordert. Der britische Kodex empfiehlt sowohl eine Trennung von CEO und Verwaltungsratsvorsitzendem als auch die Einführung eines sog. senior independent directors, dessen Aufgaben im Wesentlichen mit denen eines Lead Independent Directors übereinstimmen. Auch in den Corporate-Governance-Richtlinien institutioneller Investoren und der gängigen Stimmrechtsberater gehört ein Lead Independent Director in Fällen einer Personalunion mittlerweile zum Standard.

2. Erste Lead Independent Directors in deutschen Aufsichtsräten
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Bereits im Jahr 2014 prophezeite Markus Roth, dass ausländische institutionelle Investoren einen Sprecher der unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder aufgrund der von ihnen angelegten internationalen Standards auch für das deutsche dualistische System einfordern werden. Als Beispiel für eine solche Konstellation nannte er den Fall, dass ein ehemaliges Vorstandsmitglied in den Aufsichtsrat gewählt wird und dort den Vorsitz übernehmen soll. Als Aufgaben kämen neben dem Vorsitz bei Sitzungen der unabhängigen Aufsichtsratsmitglieder der Kontakt mit bedeutenden Aktionären und institutionellen Investoren sowie eine Beteiligung bei der Erstellung der Tagesordnung und der Organisation des Informationsflusses im Aufsichtsrat in Betracht.

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Und in der Tat: In der Hauptversammlungssaison 2021 ist ein Lead Independent Director auf die Forderungen institutioneller Investoren hin nun auch in zwei Dax-Unternehmen – nämlich der Siemens Energy AG und der Fresenius Medical Care AG & Co. KGaA – ernannt worden. Die Gründe hierfür waren allerdings etwas weitläufiger als der von Markus Roth einst angeführte Wechsel eines ehemaligen Vorstandsmitglieds an die Spitze des Aufsichtsrats. Bei der Siemens Energy AG war es ein Wechsel des ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Muttergesellschaft in ihren Aufsichtsrat, der den Anstoß dafür gab, einen Lead Independent Director vorzusehen. Bei der Fresenius Medical Care AG & Co. KGaA war es allein der Umstand, dass der Aufsichtsratsvorsitzende dem Aufsichtsrat bereits mehr als zwölf Jahre angehörte. Aus ähnlichen Gründen wurde in der Hauptversammlungssaison 2022 im Aufsichtsrat der dualistisch strukturierten SAP SE ein Lead Independent Director ernannt. Hier störten sich Investoren daran, dass der Aufsichtsratsvorsitzende bereits seit über 50 Jahren dem Unternehmen angehörig ist. Bei der Fresenius Medical Care AG & Co. KGaA und der SAP SE ist der Posten des Lead Independent Directors ausdrücklich in den Geschäftsordnungen des Aufsichtsrats verankert.

3. Keine reibungslose Einpassung in das aktienrechtliche Normgefüge
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Dass ausländische Rechtsfiguren ins inländische Recht transplantiert werden, ist in einer immer enger vernetzten (Rechts-)Welt keine Seltenheit. Holger Fleischer hat bereits im Jahr 2004 darauf hingewiesen, dass gerade für das Gesellschafts- und insbesondere das Aktienrecht wegen der gemeinsamen Grundstrukturen, der Globalisierung der Wirtschaft sowie der ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 11.04.2023 17:44
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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