Aktuell in der AG

Stimmrechtszurechnung aufgrund von Interessenschutzklauseln und anderen Vereinbarungen in Share Purchase Agreements - Kommentar zu BGH v. 13.12.2022 – II ZR 9/21 und BGH v. 13.12.2022 - II ZR 14/21 , AG 2023, 394 - Postbank II (Fuhrmann, AG 2023, 377)

Die Stimmrechtszurechnung gehört zu den praktisch bedeutsamsten Regelungen des Übernahmerechts. In seinen Postbank II-Urteilen (BGH v. 13.12.2022 – II ZR 9/21und BGH v. 13.12.2022 – II ZR 14/21, AG 2023, 394) hat der BGH sich nun zu zentralen Fragen einzelner Zurechnungstatbestände geäußert. Dessen Auslegung führt bei wenig überzeugender Begründung zu einer Ausweitung der Stimmrechtszurechnung unter unbestimmten Kriterien. Die Rechtsunsicherheit erhöht sich dadurch für zahlreiche M&A-Transaktionsstrukturen.

I. Einleitung
II. Sachverhalt und bisheriger Verfahrensgang
III. Entscheidung des BGH und Analyse

1. Halten der Aktien für Rechnung des Bieters
a) Übergang der Dividendenchance
b) Einflussmöglichkeit
2. Abstimmung über die Ausübung von Stimmrechten
a) Bisherige Entwicklung und Diskussionsstand vor der Entscheidung
b) Entscheidung
c) Bewertung
d) Rechtsvergleichende Perspektive
IV. Auswirkungen der Entscheidung
1. Interessenschutzklauseln im Vorfeld von öffentlichen Übernahmen
2. Entwurf von SPAs
a) Für Rechnung des Bieters
b) Abstimmung über Stimmrechtsausübung
3. Auswirkungen auf §§ 33 ff. WpHG
4. Bedeutung von Interessenschutzklauseln in SPAs für die Einordnung als gemeinsam handelnde Person nach § 2 Abs. 5 WpÜG
V. Ergebnisse
VI. Ausblick


I. Einleitung

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Am 13.12.2022 hat der BGH erneut zur Übernahme der Postbank durch die Deutsche Bank im Jahre 2010 entschieden. Im Grundsatz geht es um den klassischen Anwendungsfall der Stimmrechtszurechnung für ein Pflichtangebot. Die Pflichtangebotsregelung ist durch Art. 5 der Übernahmerichtlinie vorgegeben und einer der zentralen Bausteine des Übernahmerechts in Europa. In Deutschland wurde sie schon 1995 mit dem freiwilligen Übernahmekodex eingeführt. Viele andere Jurisdiktionen kennen eine solche dagegen nicht, insbesondere die USA. Pflichtangebote sind in der Praxis nicht alltäglich. So waren etwa im Jahre 2021 nur drei von insgesamt 33 Angeboten nach dem WpÜG Pflichtangebote (9 %). Oft beruhen Pflichtangebote nicht darauf, dass der (spätere) Bieter selbst Anteile in Höhe der die Angebotspflicht nach § 35 Abs. 2 WpÜG auslösenden Kontrollschwelle erwirbt. Vielmehr folgt die Angebotspflicht in der Regel aus der Zurechnung von Stimmrechten Dritter nach § 30 WpÜG.

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Für Marktteilnehmer folgt aus der Stimmrechtszurechnung erhebliche Unsicherheit, insbesondere bei dem Erwerb von Aktienpaketen. Will ein Marktteilnehmer sich an einer börsennotierten Gesellschaft durch Erwerb eines Aktienpakets von einem größeren Aktionär beteiligen, muss er damit rechnen, unter Umständen ein Pflichtangebot abgeben zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt hat er sich aber womöglich noch gar nicht zu einer Übernahme entschlossen und demnach auch die erforderliche Vorbereitung noch nicht finalisiert, etwa in Bezug auf die Strukturüberlegungen, die Angebotsfinanzierung, gegebenenfalls die Abstimmung mit seinem Aufsichtsrat, seinen Share- und Stakeholdern oder denen der Zielgesellschaft sowie den Entwurf der erforderlichen komplexen Dokumentation.

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Bei solchen Paketerwerben vereinbaren Käufer und veräußernder Aktionär meist umfangreiche Regelungen für den Zeitraum zwischen Vereinbarung (Signing) und Vollzug (Closing) des Paketerwerbs. Bei Signing wird in der Regel ein fester Kaufpreis vereinbart, so dass sich für den Käufer das Erfordernis stellt, sowohl den Bestand als auch den Wert des Aktienpakets möglichst bis zum Closing zu wahren. Zur Werterhaltung kann er mit dem Verkäufer dessen Verpflichtung vereinbaren, keine wertmindernden Maßnahmen vorzunehmen. Der Veräußerer kann seinen Einfluss auf die Gesellschaft, an der Anteile veräußert werden, vor allem über die Stimmrechtsausübung in deren Hauptversammlung ausüben. Deshalb ist die Stimmrechtsausübung auch der zentrale Anknüpfungspunkt für eine solche Verpflichtung. Für die Sicherung des Erfüllungsanspruchs des Käufers, also des Verbleibs der Aktien bei dem Verkäufer bis zu dem Vollzug, bieten sich insbesondere Verpfändungen der veräußerten Stimmrechte an den Käufer an. Genau diese zwei Regelungen hatte auch die Deutsche Bank AG („Deutsche Bank“) bei einem Paketerwerb im Vorfeld der Postbank-Übernahme mit der Deutschen Post AG („Deutsche Post“) verhandelt. Der BGH hat sich – in seiner mit 87 Seiten bisher umfangreichsten übernahmerechtlichen Entscheidung – mit der Auswirkung beider Mechanismen auf die Stimmrechtszurechnung nach seiner ersten Postbank-Entscheidung nun noch einmal auseinandersetzen müssen. Für die übernahmerechtliche Praxis sind seine Ausführungen in dieser Grundsatzentscheidung von großer Bedeutung.

II. Sachverhalt und bisheriger Verfahrensgang
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Hintergrund beider Verfahren ist die Übernahme der Deutschen Postbank AG („Postbank“) durch die Deutsche Bank. Am 12.9.2008 – drei Tage vor der Insolvenz von Lehman Brothers – schloss die Deutsche Bank mit der Deutschen Post eine Vereinbarung über den Erwerb einer Beteiligung an der Postbank I.H.v. 29,75 % des Grundkapitals der Postbank zu einem Preis von € 57,25 pro Aktie (das „SPA“). Den Vollzug des SPAs erwarteten beide Parteien für Anfang 2009. Daneben vereinbarten Deutsche Bank und Deutsche Post in dem SPA eine Call-Option der Deutschen Bank für ein weiteres Aktienpaket an der Postbank zu € 55 pro Aktie und eine Put-Option der Deutschen Post zu je € 42,80 pro Aktie. Das SPA sah auch eine Verpflichtung der Deutschen Post (Covenant) vor, im Zeitraum bis zum Vollzug bestimmten Beschlussgegenständen auf einer Hauptversammlung der Postbank nicht zuzustimmen, nämlich Satzungsänderungen, Umwandlungsmaßnahmen, Dividenden oder sonstigen Maßnahmen, die die in dem SPA vereinbarte Transaktion erschweren könnten. Die Hauptversammlung der Postbank sollte im zweiten Quartal 2009 stattfinden. Für die Dividendenberechtigung der Aktien wurde eine Zahlung der Deutschen Bank an die Deutsche Post i.H.v. € 110.000.000 vereinbart. Ende 2008 wurde zur Sicherung der jeweiligen Ansprüche noch eine Verpfändungsvereinbarung getroffen, die auch eine klarstellende Regelung enthielt, dass die Dividendenansprüche für die verpfändeten Aktien bei der Deutschen Post verblieben.

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Vor dem Hintergrund der durch die Finanzkrise geänderten Umstände – der Kurs der Postbank-Aktie lag nun nahe € 10 – einigten sich Deutsche Bank und Deutsche Post am 14.1.2009 auf eine Änderung des SPA. Diese Änderungsvereinbarung („SPA-Amendment“) sah einen möglichen Erwerb der Postbank in drei Schritten vor: (i) den Erwerb eines Aktienpakets i.H.v. 22,9 % im Rahmen einer Sachkapitalerhöhung aus genehmigten Kapital zum Preis von € 23,92, (ii) den Erwerb einer Pflichtwandelumtauschanleihe i.H.v. 27,4 % mit Fälligkeit im Jahre 2012 zum Preis von € 45,45 und (iii) über 12,1 % sowohl eine Call-Option zu € 48,85 als auch eine Put-Option zu € 49,92 je Aktie, die zwischen 2012 und 2013 ausgeübt werden können sollten. Zur Sicherung der verschiedenen Ansprüche auf die Postbank-Aktie verpfändete die Deutsche Post Aktien der Postbank an die Deutsche Bank. Die Verpfändung bezog sich auch auf Dividenden und Bezugsrechte an den Aktien, die selbst aber bei der Deutsche Post verbleiben sollten, wie ausdrücklich klargestellt wurde. Nach den Verpfändungsvereinbarungen sollten die Stimmrechte von der Deutschen Post so ausgeübt werden, dass es zu keinen nachteiligen Auswirkungen auf die verpfändeten Aktien komme.

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Die Deutsche Bank veröffentlichte am 7.10.2010 ein Übernahmeangebot für € 25 je Aktie der Postbank, das deren Aktionäre für 11,47 % der Aktien nach Ablauf der Annahmefrist 8 bzw. für insgesamt 22,02 % der Aktionäre nach Ablauf der weiteren Annahmefrist annahmen, darunter auch die Kläger. Diese sind der Ansicht, dass die Deutsche Bank schon aufgrund des SPA ein Pflichtangebot zu einem Preis von € 57,25 pro Aktie habe veröffentlichen müssen und fordern nun den Unterschiedsbetrag von der Deutschen Bank.

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Die von den Klägern gegen die Deutsche Bank angestrengten Verfahren dauern nun schon seit zehn Jahren an. Das Verfahren II ZR 9/21 hat deshalb eine längere Verfahrensgeschichte. Zunächst hatte hier das LG Köln die Klage abgewiesen. Auch die Berufung hat das OLG Köln zurückgewiesen. Die Revision war erfolgreich und hat zur Aufhebung des Urteils des OLG Köln durch den BGH und zur Zurückverweisung zur neuen Verhandlung und Entscheidung geführt (Postbank I). Das OLG Köln hat Beweis erhoben und die Berufung wiederum zurückgewiesen.

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In dem Verfahren II ZR 14/21 hatten die Kläger dagegen vor dem LG Köln zunächst ganz überwiegend Erfolg. Das OLG Köln hat die Klagen aber abgewiesen.

III. Entscheidung des BGH und Analyse
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In den beiden – nahezu wortgleichen – umfangreichen Entscheidungen werden viele unterschiedliche Fragen im Zusammenhang mit der Stimmrechtszurechnung behandelt.

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So bekräftigt der II. BGH-Senat etwa noch einmal die bereits in seiner Postbank I-Entscheidung erstmals dargestellte Auffassung, dass sich die Referenzzeiträume für den Mindestpreis (§§ 4, 5 WpÜG-AngVO) verlängern, wenn der Bieter die Veröffentlichung eines Pflichtangebots pflichtwidrig unterlassen hat und später...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 24.05.2023 12:11
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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