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Ad-hoc-Publizität und Emittentenhaftung bei Konzern- und Beteiligungsverhältnissen - Kommentar zu OLG Stuttgart v. 29.3.2023 - 20 Kap 2/17 , AG 2023, 655 (Kumpan/Misterek, AG 2023, 633

Neues im Dieselskandal: 2021 hat das OLG Braunschweig in einem vielbeachteten Hinweisbeschluss zentrale Aspekte der Frage geklärt, ob die Ad-hoc-Meldung der Volkswagen AG zu den Emissionswerten und Manipulationen der eigenen Motoren schuldhaft zu spät kam. Am 29.3.2023 legte nun auch das OLG Stuttgart seine Musterfeststellungen zur Haftung der Holdinggesellschaft Porsche SE vor und musste sich dabei in vielen Debatten positionieren, die von der Literatur seit langem hitzig geführt werden. Vor allem war zu klären, ob eine Doppelveröffentlichung von VW und Porsche überhaupt geboten ist (dazu II.) und wann Ereignisse aus der Sphäre einer Beteiligungsgesellschaft auch eine Holdinggesellschaft unmittelbar betreffen (dazu III.). Daran schließt sich die Frage an, ob aus diesem Kreis nur die schon bekannten oder auch beschaffbare Informationen zu veröffentlichen sind und ob dies die Ad-hoc-Pflicht bereits tatbestandlich begrenzt (dazu IV.). Geht man dabei davon aus, dass Emittenten eine Wissensorganisationspflicht trifft, so muss außerdem geklärt werden, wie weit diese in Konzern- und Beteiligungsverhältnissen reicht (dazu V.).

I. Hintergrund
II. Genuine Veröffentlichungspflicht der Holdinggesellschaft
III. Unmittelbare Betroffenheit in Konzern- und Beteiligungsverhältnissen

1. Kritik am Meinungsstand
2. Gesamtabwägung aller Umstände
3. Buchhalterischer Nachvollzug kein absolutes Kriterium
IV. Kennen(müssen) der Insiderinformation
1. Tatbestandliche Wissensorganisationspflicht
2. Beweislast
V. Wissensorganisationspflicht im Konzern und bei Beteiligungsverhältnissen
1. Reichweite der Wissensorganisationspflicht
a) Fingiertes Wissen bei der Tochter- bzw. Beteiligungsgesellschaft
b) Sonstiges Wissen in der Tochter- bzw. Beteiligungsgesellschaft (v.a. von Mitarbeitern)
2. Verschwiegenheitspflichten als Grenzen der Wissensorganisation
a) Insiderrechtliches Offenlegungsverbot
b) Aktienrechtliche Verschwiegenheitspflicht
VI. Fazit und Ausblick


I. Hintergrund

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Mit tausenden Klagen von Kunden und Anlegern beschäftigt der Dieselskandal seit mehreren Jahren die deutsche Justiz. Entsprungen war er einem Dilemma: Einerseits wollte sich Volkswagen ab 2006 mit sauberen und verbrauchsarmen Motoren profilieren, um neue Marktanteile in den USA zu gewinnen. Andererseits gelang es dem Unternehmen nicht einmal, Dieselaggregate zu entwickeln, welche die 2007 verschärften NOx-Grenzwerte erfüllt hätten und gleichzeitig auf eine hinreichende Kundennachfrage getroffen wären. Die ab 2009 in den USA als „Clean Diesel“ vermarkteten Fahrzeuge mit Motoren des Typs EA 189 wurden deshalb mit einer Abschalteinrichtung (sog. defeat device) manipuliert, um die Einhaltung von NOx-Grenzwerten auf dem Prüfstand vorzutäuschen. Als dieses Vorgehen von der Forschungsorganisation ICCT und der kalifornischen Umweltbehörde aufgedeckt wurde, informierten die Volkswagen AG und die Porsche SE den Markt am 22.9.2015 mit Ad-hoc-Meldungen, dass ca. 11 Millionen Fahrzeuge „Auffälligkeiten“ bei den Emissionswerten zeigten und die Volkswagen AG deshalb ergebniswirksam 6,5 Milliarden € zurückstelle. Das führte auch bei den Aktien der Porsche SE zu hohen Kursverlusten, weil sie als Holdinggesellschaft mit rund 31 % des gezeichneten Kapitals und 52 % der Stimmrechte (Stammaktien) an der Volkswagen AG beteiligt war.

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Anleger, die in der Zwischenzeit überbewertete Finanzinstrumente der Emittenten erworben hatten, klagten in der Folge auf Schadensersatz gem. § 826 BGB und § 37b WpHG a.F. (seit dem 2. FiMaNoG § 97 WpHG) wegen verspäteter Kapitalmarktinformation. Anspruchsvoraussetzungen, die den Fällen gemeinsam zugrunde liegen, werden zentralisiert in Musterverfahren nach dem KapMuG für alle Klagen bindend geprüft. Nachdem das OLG Braunschweig ein solches Musterverfahren für die am LG Braunschweig anhängigen Klagen gegen die Volkswagen AG eröffnet hatte, lehnte es das OLG Stuttgart zunächst aufgrund der Sperrwirkung von § 7 KapMuG ab, auf eine Vorlage des LG Stuttgart hin ein getrenntes Musterverfahren für die Klagen gegen die Porsche SE durchzuführen. Dem widersprach der BGH 2020, weil sich die in Braunschweig und Stuttgart begehrten Feststellungen auf verschiedene Emittenten beziehen. Die so herbeigeführte Trennung der Verfahren gegen Porsche und VW war weitsichtig, denn inzwischen hat sich gezeigt, dass bei den beiden Musterbeklagten unterschiedliche Rechtsfragen im Zentrum stehen: Während das OLG Braunschweig kürzlich in einem Hinweisbeschluss vor allem auf das Vorliegen einer Insiderinformation und das Recht der Volkswagen AG zu einem Aufschub der Ad-hoc-Meldung fokussierte, ließ das OLG Stuttgart diese Fragen nun in seinem Musterentscheid zur Porsche SE offen. Stattdessen stellte es die aus der Holdingstruktur resultierenden Rechtsprobleme in den Vordergrund und resümierte, dass zwar nicht generell, aber im konkreten Fall eine Veröffentlichungspflicht der Dachgesellschaft ausscheidet.

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Es war nicht das erste Mal, dass ein Gericht über diese Fragen im Fall Porsche zu entscheiden hatte: 2018 war das LG Stuttgart noch zu einem anderen Ergebnis gekommen. Das Urteil zugunsten zweier Fondsgesellschaften hat das OLG Stuttgart jedoch schon 2022 wieder aufgehoben, weil den Klägern jedenfalls kein Schaden entstanden war. Die lang erwartete Stellungnahme zu den Voraussetzungen der Ad-hoc-Publizität blieb dagegen dem nun ergangenen Musterentscheid vorbehalten. Dieser ist von großer Bedeutung für die künftige Publizitätspraxis: Die Rechtsfragen haben sich durch das Inkrafttreten der MAR (im fallrelevanten Zeitpunkt galten noch die §§ 13 ff. WpHG a.F.) nicht geändert und die Feststellungen zur Ad-hoc-Publizität bei Holdingstrukturen dürften erst recht auch (teils sogar strenger) in Konzernen gelten.

II. Genuine Veröffentlichungspflicht der Holdinggesellschaft
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Die Parallelität der Verfahren gegen Porsche und VW wirft bereits im Ausgangspunkt die Frage auf, ob beide Emittenten nebeneinander in Bezug auf denselben Sachverhalt ad-hoc-pflichtig sein können. Teile des Schrifttums verneinen dies und sehen nur die Beteiligungsgesellschaft oder nur die Holdinggesellschaft in der Pflicht, weil bereits eine einzige Ad-hoc-Meldung den gesamten Markt hinreichend informiere und weitere Veröffentlichungen das Anlegerpublikum verwirren könnten. In der Tat stellt Art. 2 Abs. 1 lit. a) i) VO (EU) 2016/1055 mittlerweile für die MAR klar, dass jede Ad-hoc-Meldung nicht nur die eigenen Aktionäre, sondern „eine möglichst breite Öffentlichkeit“ erreichen soll. Das meint aber keine tatsächliche Kenntnisnahme, sondern nur die theoretische Möglichkeit hierzu. In der Realität haben Anleger jedoch nicht alle Veröffentlichungen im Blick, sondern konzentrieren sich auf Gesellschaften, deren Instrumente sie halten. Es ist deshalb im Sinne der von Art. 17 MAR angestrebten effizienten Informationsverarbeitung und der von Art. 1 MAR postulierten Anlegergleichberechtigung, wenn sowohl Holdinggesellschaft als auch Beteiligungsgesellschaft gesondert prüfen, ob ein Sachverhalt für ihre jeweiligen Anlegerkreise relevant ist. Gerade bei komplexen Beteiligungsstrukturen kann nicht davon ausgegangen werden, dass Anleger stets zutreffend einschätzen können, inwieweit eine Information auf andere Gesellschaften durchschlägt. Aus diesem Grund wird die Ad-hoc-Meldung der Holdinggesellschaft regelmäßig auch einen anderen Inhalt haben als diejenige der Beteiligungsgesellschaft und sich nicht in einer bloßen Wiederholung erschöpfen. Vielmehr fordert § 4 Abs. 1 Satz 1 WpAV eine Erklärung, inwieweit die Information die konkrete Gesellschaft unmittelbar betrifft (Nr. 6) und die Kurse von ihr begebener Instrumente beeinflussen kann (Nr. 7). Quantitativ hängt das u.a. von der Beteiligungshöhe, ihrer Wesentlichkeit gegenüber anderen Aktiva sowie vom Bestehen etwaiger Ersatzansprüche ab. Qualitativ können bei der Holdinggesellschaft außerdem zusätzliche Angaben erforderlich werden, etwa zur Beteiligungsstruktur oder spezifischen Folgen auf ihrer Seite (z.B. Nachschusspflichten).

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Aus diesen Gründen hat das OLG Stuttgart zu Recht festgestellt, dass eine Ad-hoc-Publizitätspflicht der Porsche SE nicht schon aufgrund einer parallelen Veröffentlichungspflicht der Volkswagen AG ausscheidet, sondern für sich genommen geprüft werden muss. Das steht in Einklang mit dem Gesetzeswortlaut: Art. 17 MAR (bzw. damals § 15 WpHG a.F.) enthält keine Konzernklausel, sondern richtet sich an jeden Emittenten. Mehrere juristische Personen als rechtliche Einheit im Anwendungsbereich europarechtlicher Pflichten zusammenzufassen, hat der EuGH bisher nur zugelassen, wenn ein Rechtsakt ganze „Unternehmen“, nicht aber einzelne Gesellschaften adressiert. Dagegen ist es im Einzelfall möglich, dass die Ad-hoc-Meldung einer Beteiligungsgesellschaft auch schon alle relevanten Informationen über die Holdinggesellschaft verbreitet. Durch öffentliche Bekanntheit entfällt dann die Insiderinformation als tatbestandliche Voraussetzung einer nochmaligen Ad-hoc-Pflicht. Wenn die Beteiligungsgesellschaft allerdings – wie im vorliegenden Fall – eine Ad-hoc-Meldung unterlässt, kann daneben grds. auch die Holdinggesellschaft für die Veröffentlichung der Information verantwortlich sein.

III. Unmittelbare Betroffenheit in Konzern- und Beteiligungsverhältnissen
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Art. 17 Abs. 1 MAR (früher § 15 Abs. 1 WpHG a.F.) beschränkt die Ad-hoc-Publizität auf Insiderinformationen, die den Emittenten unmittelbar betreffen. Trotz ihrer zentralen Filterfunktion ist diese Voraussetzung nach wie vor sehr unkonturiert. Einigkeit besteht im Schrifttum nur darüber, dass ein Emittent jedenfalls von Informationen unmittelbar betroffen ist, die sich auf Umstände in seinem Tätigkeitsbereich beziehen. Diese seinerzeit in § 15 Abs. 1 Satz 3 WpHG a.F. noch ausdrücklich genannte Fallgruppe ist aber weder abschließend noch inhaltlich näher bestimmt. Das OLG Stuttgart musste deshalb durch Auslegung ermitteln, ob und wann....
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.09.2023 09:58
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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