Aktuell in der AG

Beratungsteilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern bei Interessenkonflikten - Versuch einer Neujustierung (Geiger, AG 2023, 880)

In einer neueren Entscheidung hat der BGH bekräftigt, dass einem Personengesellschafter, der wegen des „Verbots des Richtens in eigener Sache“ einem Stimmverbot bei einer Abstimmung unterliegt, nicht verwehrt werden darf, an der betreffenden Sitzung und Beratung teilzunehmen. Die Frage, ob ein Stimmverbot oder der dahinterliegende Interessenkonflikt mit einem Verbot zur Teilnahme an Sitzung und Beratung einhergehen, stellt sich auch für Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft. Der Beitrag befasst sich mit der Frage, was aus der Entscheidung des BGH zum Personengesellschaftsrecht für Aufsichtsratsmitglieder abgeleitet werden kann, und spricht sich für ein mehrstufiges Prüfungsmodell aus, in dessen Zentrum bewegliche Schranken des Teilnahmerechts aus der Treupflicht stehen.

I. Einleitung
II. Der Ausgangspunkt – Stimm‑, aber kein Teilnahmeverbot beim Richten in eigenen Angelegenheiten im Personengesellschafts- und GmbH-Recht
III. Aktienrechtlicher Meinungsstand zum Umgang mit Interessenkonflikten im Aufsichtsrat

1. Keine allgemeinen Regelungen
2. Drei unterschiedliche dogmatische Ebenen zum Umgang mit Interessenkonflikten
a) Gesetzliche Stimmverbote in typisierten, eng begrenzten Fallkonstellationen von Interessenkonflikten
b) Verhaltenspflichten aus der Treupflicht
c) Verhaltensobliegenheiten mit Blick auf die Business Judgment Rule
IV. Bewertung im Licht des BGH-Urteils zum Personengesellschaftsrecht
1. Auswirkungen von „starren“ Stimmverboten auf die Sitzungsteilnahme
2. Treupflicht als bewegliche Schranke des Teilnahmerechts
3. Verhaltensobliegenheiten mit Blick auf die Business Judgment Rule
a) Relevanz über die „Infektionsthese“ hinaus
b) Generelle Obliegenheit zum Fernbleiben von der Beratung bei Interessenkonflikt?
c) Vorsorgliches Fernbleiben von der Beratung bei Interessenkonflikt
V. Ergebnis


I. Einleitung

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Zum Umgang mit Interessenkonflikten insbesondere im Aufsichtsrat lassen sich ganze Monographien füllen. Die Frage, ob sich von einem Interessenkonflikt betroffene Gesellschafter oder Organmitglieder an Abstimmungen und vorgelagerten Sitzungen und Beratungen beteiligen dürfen, auf die sich ein Interessenkonflikt erstreckt, stellt sich grundsätzlich über die Rechtsformen und Organe hinweg gleichermaßen. Das heißt nicht, dass die Antworten auf diese Frage in allen Konstellationen gleich ausfallen müssen. Es lohnt sich aber, wenn man die Frage des Stimm- und Teilnahmerechts bei relevanten Interessenkonflikten im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft betrachtet, auch Antworten zu vergleichbaren Fragen des Personengesellschaftsrechts näher in den Blick zu nehmen.

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Eine interessante Gelegenheit dazu gibt ein Urteil des BGH, das sich mit Stimm- und Teilnahmeverboten eines Personengesellschafters befasst, der einem Interessenkonflikt unterlag. Die Antworten und Antwortansätze, aber auch Lücken dieses Urteils sollen mit Blick auf die verwandte Frage des Aktienrechts betrachtet werden, ob und wann Aufsichtsratsmitglieder infolge eines Interessenkonflikts Abstimmungen und Beratungen im Aufsichtsrat fernbleiben müssen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf Fälle, in denen ein Interessenkonflikt vorliegt. Die für die Praxis bedeutsamen Fragen, wann ein Interessenkonflikt vorliegt, ob es für die Relevanz von Interessenkonflikten auf eine bestimmte Schwelle ankommt und ob und wie insbesondere bei Doppelmandaten bestehende Interessenkonflikte „aufgelöst“ werden können, können hier nur am Rand gestreift werden.

II. Der Ausgangspunkt – Stimm‑, aber kein Teilnahmeverbot beim Richten in eigenen Angelegenheiten im Personengesellschafts- und GmbH-Recht
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Die Entscheidung des BGH beruht vereinfacht und zusammengefasst auf folgendem Sachverhalt: Ein Gesellschafter einer BGB-Gesellschaft hatte sich nach dem Vortrag seiner Mitgesellschafter Geschäftschancen der BGB-Gesellschaft angemaßt, indem er Brillen, die er für die BGB-Gesellschaft in Lohnfertigung auf Grundlage eines Lizenzvertrags herzustellen hatte, im eigenen Namen verkaufte. Die Mitgesellschafter beschlossen konkludent, den Lizenzvertrag zu kündigen. Den Gesellschafter, der sich angeblich Geschäftschancen der Gesellschaft angemaßt hatte, beteiligten sie weder an den Beratungen noch an der konkludenten Beschlussfassung.

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„Niemand darf in eigenen Angelegenheiten richten.“ Nach diesem allgemeinen Grundsatz bewerteten die Vorinstanzen und der BGH auch den vorliegenden Fall: Ein Richten in eigenen Angelegenheiten drohe auch dann, wenn die Gesellschaft einen Vertrag mit dem Personengesellschafter kündigen will, wenn diese Kündigung darauf abzielt, ein Verhalten des betroffenen Gesellschafters zu missbilligen. Das Verbot des Richtens in eigenen Angelegenheiten begründet insoweit ein Stimmverbot für den betroffenen Gesellschafter. Soweit waren sich alle Instanzen – BGH, KG und LG Berlin – einig.

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Das LG und das KG waren aber noch davon ausgegangen, dass der vom Stimmverbot betroffene Gesellschafter auch nicht an der Beratung zu beteiligen war. Sie sahen es daher als unschädlich an, dass die Mitgesellschafter den konfligierten Gesellschafter an den – wie auch immer gearteten – Beratungen über die Kündigung des Lizenzvertrags nicht beteiligt und ihn nicht einmal vorab von dem beabsichtigten Beschluss in Kenntnis gesetzt hatten. Das Stimmverbot führte nach Ansicht der Instanzgerichte mithin auch zum Ausschluss von der Teilnahme an der Beratung, ja sogar zum Ausschluss von Informationen über die anstehende Entscheidung. Die Mitgesellschafter hätten den konfligierten Gesellschafter daher weder anhören noch einladen müssen, bevor sie ohne dessen Stimmen über die Kündigung des Lizenzvertrags entschieden.

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Dem tritt der Bundesgerichthof entgegen: Auch bei einer formlosen und konkludenten Beschlussfassung sei der von einem Stimmverbot betroffene Gesellschafter an der Willensbildung der Gesellschaft zu beteiligen. Er solle „kraft seiner Mitgliedschaft“ die Möglichkeit haben, seine Ansicht über die anstehenden Tagesordnungspunkte und Einwendungen geltend zu machen und zu überwachen, ob die von Gesetz oder Gesellschaftsvertrag geforderten Förmlichkeiten der Beschlussfassung gewahrt sind. Seine Auffassung stützt der BGH auf drei ältere Entscheidungen zum GmbH-Recht, in denen er mit entsprechender Begründung entschieden hatte, dass dem von einem Stimmverbot betroffenen GmbH-Gesellschafter das Recht zur Sitzungs- und Beratungsteilnahme verbleibt. Neu ist mithin nicht das Ergebnis: Das Stimmverbot für einen Gesellschafter führt nicht ohne weiteres zum Ausschluss des Rechts auf Sitzungs- und Beratungsteilnahme. Neu ist hingegen die zentrale Stelle der Begründung: Naturgemäß tritt die Überwachung von Förmlichkeiten der Beschlussfassung bei einem formlosen und konkludenten Beschluss wie im vorliegenden Fall in den Hintergrund. Zentral war für den BGH daher, dass auch der vom Stimmrecht ausgeschlossene Gesellschafter die Möglichkeit haben müsse, „auf die Meinungsbildung der anderen Gesellschafter Einfluss zu nehmen.“ Das personengesellschaftsrechtliche Schrifttum stimmt auch diesem Begründungsschritt des BGH überwiegend zu. Dieser Begründungsschritt ist aber durchaus erstaunlich: Der Gesellschafter, der wegen eines typisierten Interessenkonflikts in Form des Verbots des Richtens in eigenen Angelegenheiten vom Stimmrecht ausgeschlossen ist, soll dennoch mitberaten dürfen, ja, er soll sogar...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 18.12.2023 14:55
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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