Aktuell in der AG

Ad-hoc-Publizität bei gestreckten Sachverhalten - de lege lata und nach Inkrafttreten des Listing Acts (Hellgardt, AG 2024, 57)

Die EU-Kommission hat im Listing Act vorgeschlagen, Zwischenschritte gestreckter Sachverhalte von der Ad-hoc-Publizität auszunehmen. Der Beitrag zeigt, dass die mangelnde Abgrenzung der Tatbestandsmerkmale präzise Information und Kursbeeinflussungseignung zu Rechtsunsicherheiten bei gestreckten Sachverhalten geführt hat. „Zwischenschritte“ und „Endereignisse“ sind austauschbare Kategorien und eignen sich nicht zur Konkretisierung von Art. 17 MAR.

I. Gestreckte Sachverhalte als Dauerthema der Ad-hoc-Publizität
II. Die Rechtslage nach Geltl und Art. 7 Abs. 2 und 3 MAR

1. Kernaussagen des Geltl-Urteils
2. Tatbestand der präzisen Information und die Kursbeeinflussungseignung
a) Diskussionstand zum Umgang mit gestreckten Sachverhalten
b) Die Präzision der Information und ihre Bedeutung bei gestreckten Sachverhalten
c) Die Kursbeeinflussungseignung der Information und ihre Bedeutung bei gestreckten Sachverhalten
3. Auswirkungen auf die Veröffentlichungspflicht
III. Geplante Änderungen durch den Listing Act
IV. Problemanalyse und Bewertung der geplanten Änderungen

1. „Zwischenschritt“ als problematische Kategorie des Insiderrechts
2. Entkopplung von Insiderinformation und Veröffentlichungspflicht
3. Marginalisierung von Art. 17 Abs. 4 MAR
4. Rechtssicherheit durch Regelbeispiele?
V. Aufschub der Veröffentlichung bei Rechtsunsicherheit
VI. Fazit


I. Gestreckte Sachverhalte als Dauerthema der Ad-hoc-Publizität

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Seit dem Kapitalanleger-Musterverfahren über das Ausscheiden von Herrn Schrempp als Vorstandsvorsitzender der damaligen DaimlerChrysler AG wird im europäischen Kapitalmarktrecht über den Umgang mit „gestreckten Sachverhalten“ im Insiderrecht gestritten. Als gestreckte Sachverhalte werden solche Fallgestaltungen bezeichnet, die aus einer Abfolge von einzelnen Schritten bestehen, welche auf ein bestimmtes Ziel gerichtet sind, und bei denen zu Beginn des Prozesses noch nicht klar ist, ob das Endziel überhaupt und gegebenenfalls in welcher Form erreicht werden wird. Soweit nicht nur das Endereignis, sondern auch einzelne Schritte auf dem Weg dahin als Insiderinformation gem. Art. 7 Abs. 1 lit. a Marktmissbrauchsverordnung (MAR) anzusehen sind, greifen ab diesem Zeitpunkt nicht nur die Verbote von Art. 8 MAR, sondern – sofern es sich um eine Insiderinformation handelt, die unmittelbar einen Emittenten betrifft – auch die Veröffentlichungspflicht nach Art. 17 Abs. 1 MAR, die sog. Ad-hoc-Publizität.

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Viele veröffentlichungspflichtige Insiderinformationen beziehen sich auf Umstände/Ereignisse, die das Ergebnis eines längeren Prozesses sind. Neben Personalentscheidungen betrifft dies etwa M&A-Transaktionen, aber auch sog. Compliance-Vorfälle, bei denen unklar ist, ob die Gesetzesverstöße aufgedeckt und geahndet werden. Obwohl das Geltl-Urteil des EuGH die Frage der Veröffentlichungspflicht grundsätzlich geklärt und der europäische Verordnungsgeber diese Grundsätze in Art. 7 Abs. 2 und 3 MAR übernommen hat, kann die Anwendung auf individuelle Fallkonstellationen im Einzelfall Schwierigkeiten bereiten. Für die Rechtspraxis entsteht so eine Unsicherheit, ab wann die kapitalmarktrechtliche Veröffentlichungspflicht eingreift, deren Verletzung nicht nur mit erheblichen Bußgeldern geahndet werden, sondern die auch Schadensersatzansprüche von Anlegern gem. § 97 Abs. 1 WpHG nach sich ziehen kann, deren Ausmaß die öffentlich-rechtlichen Sanktionen häufig übertreffen wird.

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Im Dezember 2022 hat die EU-Kommission den Entwurf für einen Listing Act vorgelegt, durch den u.a. die Veröffentlichungspflicht des Art. 17 Abs. 1 MAR bei gestreckten Sachverhalten geändert werden soll mit dem erklärten Ziel, mehr Rechtssicherheit für die Praxis zu gewährleisten.

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Im Folgenden soll zunächst die geltende Rechtslage beleuchtet werden (unter II.; Rz. 5 ff.), ehe dann die geplanten Änderungen durch den Listing Act vorgestellt werden (unter III.; Rz. 27 ff.). Anschließend soll die Besonderheit gestreckter Sachverhalte analysiert und die geplanten Änderungen vor diesem Hintergrund bewertet werden (unter IV.; Rz. 30 ff.), ehe dann gezeigt wird, wie rechtssichere Lösungen schon de lege lata erreicht werden können (unter V.; Rz. 45 f.).

II. Die Rechtslage nach Geltl und Art. 7 Abs. 2 und 3 MAR
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Die derzeitige Rechtsunsicherheit ist wesentlich darin begründet, dass bei der Diskussion über die insiderrechtliche Einordnung gestreckter Sachverhalte unterschiedliche Tatbestandsmerkmale vermengt und die Aussagen des EuGH dazu im grundlegenden Geltl-Urteil nur teilweise rezipiert werden.

Der Tatbestand der Insiderinformation in Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR besteht – ebenso wie die fast wortgleiche Vorgängerregelung in Art. 1 Nr. 1 Marktmissbrauchsrichtlinie – aus vier Elementen, die vereinfacht gefasst lauten: (1) nicht öffentlich bekannte; (2) präzise Information; (3) betreffend einen oder mehrere Emittenten oder Finanzinstrumente; (4) mit erheblicher Kursbeeinflussungseignung. Ob einzelne Schritte innerhalb eines gestreckten Sachverhalts als Insiderinformation einzustufen sind, hängt also im Ausgangspunkt davon ab, ob sie diese vier Tatbestandsmerkmale erfüllen, wobei das zweite und das vierte Merkmal Probleme aufwerfen können.

1. Kernaussagen des Geltl-Urteils
Im Geltl-Urteil hat der EuGH zwei zentrale Fragen dazu beantwortet, wann einzelne Schritte innerhalb von gestreckten Sachverhalten als Insiderinformationen einzustufen sind. Dabei ist wichtig, dass es sowohl in den Vorlagefragen des BGH als auch in der Antwort des EuGH allein um die Auslegung des zweiten Tatbestandsmerkmals (präzise Information) ging.

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Die erste Frage betraf eigentlich eine Selbstverständlichkeit, nämlich, ob Einzelschritte eines gestreckten Sachverhaltes als solche präzise Informationen darstellen können. Diese Frage ist nur vor dem Hintergrund einer vor der Geltl-Entscheidung vertretenen Literaturauffassung verständlich, derzufolge ...



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 13.02.2024 10:44
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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