Aktuell in der AG

Vorschläge für eine große Aktienrechtsreform (Habersack/Vetter, AG 2024, 377)

Seit Inkrafttreten des Aktiengesetzes vor knapp 60 Jahren haben sich die Lebenswirklichkeit der Aktiengesellschaften und das regulatorische Umfeld deutlich verändert. Der Gesetzgeber hat zwar auf diese Veränderungen mit einer großen Zahl durchaus beachtlicher Reformgesetze reagiert. Diese waren indes eher punktueller Natur und nicht selten durch Vorgaben des Unionsrechts, aber auch – man denke nur an das FISG – durch Unternehmensskandale veranlasst. Betrachtet man die Entwicklung aus einer Vogelperspektive, zeigt sich die Notwendigkeit einer großen, mehr oder weniger sämtliche Bereiche des Aktienrechts umfassenden Reform. Ein von der wissenschaftlichen Vereinigung für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht (VGR) getragener Arbeitskreis von 26 Expertinnen und Experten des Aktienrechts hat es sich zur Aufgabe gemacht, Vorschläge zu einer großen Aktienrechtsreform zu entwickeln. Die Regelungsvorschläge nebst ausführlicher Begründung sollen zeitnah in der VGR-Schriftenreihe des Verlags Dr. Otto Schmidt KG veröffentlicht werden. Nachfolgend werden die Gründe für eine große Aktienrechtsreform dargelegt und die Regelungsvorschläge zusammenfassend wiedergegeben.

I. Gründe für eine große Aktienrechtsreform
II. Grundsatzthemen (federführend: Mathias Habersack, Jochen Vetter, Alfred Bergmann)

1. Regelungsansatz
2. Definition des Unternehmensinteresses, Berücksichtigung von Nachhaltigkeits- und Gemeinwohlbelangen
a) Konkretisierung der Pflichtenbindung des Vorstands
aa) Regelung zum Corporate Purpose
bb) Keine Verpflichtung zur Verfolgung von Gemeinwohlbelangen
cc) Pflicht/Recht zur Berücksichtigung von Gemeinwohlbelangen
dd) Modifikation der Business Judgment Rule
ee) Einflussnahmen auf die Organzusammensetzung
b) Befugnisse der Hauptversammlung in Nachhaltigkeitsfragen
3. Schaffung von Dual-Purpose-Gesellschaften
4. Einheitsgesellschaft oder Sonderregeln für bestimmte Unternehmen
5. Einführung des monistischen Systems als Alternative
III. Einfluss von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz (KI) auf das Aktienrecht (federführend: Thomas Kremer, Katja Langenbucher)
1. Grundsätzlich kein aktienrechtlicher Regelungsbedarf
2. Keine Ausweitung des § 76 Abs. 3 Satz 1 AktG
3. Einsatz von KI
4. Kodexempfehlungen
IV. Kapital und Aktie (federführend: Klaus Hopt, Susanne Kalss)
V. Satzung: Lockerung des § 23 Abs. 5 AktG (federführend: Walter Bayer, Susanne Kalss)

1. Verbreitete rechtspolitische Kritik an Reichweite der Satzungsstrenge
2. Kapitalmarktferne Gesellschaften
3. Kapitalmarktorientierte Gesellschaften
VI. Gläubigerschutz durch Kapitalschutz (federführend: Sebastian Herrler, Daniel Illhardt)
1. Ausgangssituation
2. Kapitalaufbringung
3. Kapitalerhaltung
VII. Vorstand (federführend: Gregor Bachmann)
VIII. Aufsichtsrat

1. Aufsichtsrat im Allgemeinen (federführend: Dirk Verse)
2. Mitbestimmung im Besonderen (federführend: Christoph Teichmann)
IX. Hauptversammlung
1. Die verfahrensmäßige Ausgestaltung der Hauptversammlung (federführend: Jens Koch, Julian Redeke)
2. Die Kompetenzen der Hauptversammlung in Geschäftsführungsfragen (federführend: Julian Redeke)
3. Die Reform des Beschlussmängelrechts (federführend: Jens Koch)
X. Neujustierung der Rechtsfolgen fehlerhafter Jahresabschlüsse (federführend: Joachim Hennrichs)
XI. Organhaftung (federführend: Gregor Bachmann, Wulf Goette)
XII. Besonderer Vertreter (federführend: Walter Bayer, Gabriele Roßkopf)
XIII. Minderheitsrechte (federführend: Dörte Poelzig)

1. Mit Bezug zur Hauptversammlung
2. Überwachung der Geschäftsführung
3. Differenzierung nach Gesellschaftstypus?
XIV. Kapitalerhöhung und Unternehmensfinanzierung (federführend: Jan Lieder, Bernd Singhof)
XV. Materielle Bewertungsregeln (federführend: Christian E. Decher, Ingo Drescher)
XVI. Konzernrecht

1. Grundlegende Reform
2. Scheme of Arrangement
XVII. Resümee


I. Gründe für eine große Aktienrechtsreform

1
Warum soll über eine grundlegendere Reform des Aktienrechts nachgedacht werden? Das deutsche Aktiengesetz wird im Jahr 2025 60 Jahre alt. Das muss nicht, kann aber ein Anlass sein, sich mit einer gründlicheren Überprüfung zu befassen, ob die damals getroffenen Regelungen und die vielfältigen in der Zwischenzeit vorgenommenen Änderungen ihre Regelungszwecke und die in sie gesetzten Erwartungen erfüllt haben und auch heute noch zeitgemäß und für die Rechtsanwender attraktiv sind.

2
In den letzten 60 Jahren hat sich die Lebenswirklichkeit von als Aktiengesellschaft – ihr gleich steht im Folgenden die Kommanditgesellschaft auf Aktien – verfassten Unternehmen deutlich verändert. Sie sind heute meist global tätig und stehen in Konkurrenz zu global agierenden Wettbewerbern. Geschäftsmodelle sind angreifbarer und Produktzyklen kürzer geworden. Neben technologischen Chancen und Gefahren (Stichworte: Dekarbonisierung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz) haben die Gesellschaftsorgane neue Aufgaben und Erwartungen (z.B. Compliance, Lieferkette, CSR, ESG) zu erfüllen und kurzfristig auf bisher nicht dagewesene Krisen zu reagieren. Auch das typische Aktionariat jedenfalls der börsennotierten Gesellschaften hat sich in den letzten 60 Jahren grundlegend geändert. Die Deutschland AG gibt es nicht mehr. Auch Aktien deutscher Unternehmen werden zu einem großen Teil von ausländischen, überwiegend institutionellen Investoren gehalten, die mit den Besonderheiten der deutschen Corporate Governance wenig vertraut und aus Kapazitäts- und Kostengründen auch nicht willens und in der Lage sind, sich engagiert um ihr Investment zu kümmern. In besonderem Maße gilt dies für passiv verwaltete Indexfonds. Mit professionellen Stimmrechtsberatern sind weitere Akteure auf Aktionärsseite auf den Plan getreten, die Einfluss auf die Gesellschaft nehmen.

3
Auch der Gesetzgeber sieht sich einem deutlich veränderten Umfeld gegenüber. In unmittelbarer Nachbarschaft hat sich, insbesondere mit dem WpHG und dem WpÜG, das Kapitalmarktrecht sehr dynamisch entwickelt und zwingt dem Gesetzgeber die Frage auf, welchem Rechtsgebiet und welchem Gesetz er eine neue Regelung zuordnen sollte. Zugleich sind auf dem Gebiet der Regelsetzung zusätzliche Akteure aufgetreten (der europäische Gesetzgeber, die Regierungskommission DCGK, BaFin und ESMA, Börsen, Stimmrechtsberater, große institutionelle Investoren, Aktionärsvereinigungen, internationale Organisationen wie die UNO und ihre unterschiedlichen Institutionen sowie NGOs).

4
Auch die Methodik der Rechtssetzung und -anwendung hat sich in den letzten 60 Jahren verändert. Die ökonomische Analyse des Rechts und insbesondere der Wirkungsweise von gesetzgeberischen Instrumenten hat wertvolle Erkenntnisse geliefert. Gleiches gilt für die Rechtsvergleichung, die gerade dem Gesetzgeber die Möglichkeit gibt, von den Erfahrungen anderer Regelsetzer einschließlich der gefundenen Lösungen und der begangenen Fehler zu profitieren. Zugleich haben sich Regelungstechniken verändert: Neben Kompetenznormen und durch Sanktionen belegte Ge- und Verbote treten insbesondere Transparenzpflichten und Comply-or-explain-Konzepte. Die Grenzen zwischen öffentlichem Recht und Aktienrecht sind heute weniger klar als vor 60 Jahren. Das Aktienrecht wird zunehmend für (gesellschafts-)politische Zwecke in Anspruch genommen; es wird ein Funktionswandel des Aktienrechts vom neutralen Organisationsrecht hin zum Katalysator der Gesellschaftspolitik diagnostiziert. Neben dem klassischen Public Enforcement instrumentalisiert auch der Staat zunehmend Mittel des Private Enforcements.

5
Rechts- und wirtschaftspolitische Trends haben vor dem Aktienrecht und den Aktienrechtlern nicht Halt gemacht. Besonders deutlich wird dies an der Diskussion um das Unternehmensinteresse als Leitlinie für das Vorstandshandeln, die in den letzten Jahren durch das Aufkommen und Wiederabebben des Shareholder-Value-Konzepts geprägt wurde. Daneben beeinflussen Themen wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz die Aktienrechtspraxis und die Arbeit der Organe.

6
Neue Herausforderungen, neben der Digitalisierung insbesondere auch die Bekämpfung des menschengemachten Klimawandels und die damit verbundenen Bemühungen um eine Dekarbonisierung der Wirtschaft, erfordern über den traditionell üblichen Investitionsbedarf hinaus erhebliche finanzielle Mittel, so dass sich der Gesetzgeber fragen muss, ob die Möglichkeiten zur Eigen- und Fremdkapitalfinanzierung gerade der Aktiengesellschaften ausreichend effizient und rechtssicher sind.

7
Vom damaligen Gesetzgeber sicherlich nicht vorhergesehen worden sind auch die internationale Konkurrenz ausländischer Rechtsformen und der Wettbewerb der Rechtsordnungen. Aufgrund der europäischen Rechtsentwicklung sind in einem Staat ansässige Unternehmen nicht mehr auf die Rechtsformen des jeweiligen Heimatlandes verwiesen. Gründer können nicht nur die Rechtsform der SE, sondern darüber hinaus das ihnen am geeignetsten erscheinende nationale Aktienrecht frei wählen.

8
Schließlich lohnt es sich auch bei Gesetzen, die keine ausdrücklichen Sunset-Klauseln enthalten, nach einer gewissen Zeit die Frage zu stellen, ob sich die gewählten Konzepte bewährt haben. Im Hinblick auf das Aktienrecht lässt sich konkret fragen:

  • Besteht noch an allen vom Gesetzgeber eingeführten Möglichkeiten und Konzepten ein Bedarf?
  • Funktionieren alle vom Gesetzgeber vorgesehenen Möglichkeiten und Schutzinstrumente in der Praxis und, wenn nicht, warum nicht?
  • Überzeugen die vom Gesetzgeber ursprünglich angedachte zwingende Einheitslösung für alle Arten von Aktiengesellschaften (große und kleine, privat gehaltene und börsennotierte) und die inzwischen vorgenommenen Aufweichungen dieses Grundsatzes nach wie vor?
  • Stellt das AktG für alle Unternehmer und Unternehmen, die Interesse an der Aktiengesellschaft haben, eine geeignete Rechtsgrundlage dar? Gilt dies insbesondere auch für junge Unternehmen, die auf eine umfangreiche Finanzierung ihres Wachstums angewiesen sind?
  • Gibt es Defizite und Beschränkungen des geltenden Aktienrechts, die Unternehmern und Unternehmen Zuflucht bei anderen deutschen, europäischen oder ausländischen Rechtsformen suchen lassen?
  • Überzeugt die Grenzziehung zwischen zwingenden Vorgaben und Wahrung der Privatautonomie insbesondere bei der Satzungsgestaltung auch heute noch?
  • Gibt es Konzepte, die im Ausland bewährt sind und die von den überwiegend ausländischen Aktionären teilweise erwartet werden, die anders als bisher auch deutschen Aktiengesellschaften offenstehen sollten (z.B. ein monistischer Verwaltungsrat)?
  • Hat sich bei den Modifikationen des Aktienrechts ein gewisser regulatorischer Wildwuchs ergeben, der Anlass für eine Vereinheitlichung und Systematisierung gibt?
  • Hat sich das Zusammenspiel von AktG und DCGK bewährt?

9
Die nachfolgenden Überlegungen und Vorschläge beschränken sich auf das deutsche Aktienrecht und zielen in erster Linie auf die Aktiengesellschaft deutschen Rechts, lassen sich aber überwiegend auf die Kommanditgesellschaft auf Aktien übertragen und beanspruchen nach Maßgabe der Art. 9 Abs. 1 lit. c) SE-VO und spezieller Verweise der SE-VO auf das nationale Aktienrecht auch für die SE Geltung. Dabei ist zu beachten, dass das Aktienrecht im Laufe der Zeit in immer stärkerem Maße europarechtlich vorgeprägt ist. Eine Modifikation der europarechtlichen Vorgaben ist nicht Gegenstand der vorliegenden Vorschläge. Bei manchen der Vorschläge ist zu entscheiden, ob sie mit zwingender Wirkung gesetzlich verankert werden sollten oder ob ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 10.06.2024 17:17
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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