Aktuell in der AG

Haftungsprivileg, safe harbor oder verbindliche Konkretisierung des allgemeinen Sorgfaltsmaßstabs? - Zur zivilrechtlichen Erfassung der deutschen Business Judgment Rule (Scholz, AG 2018, 173)

Mit der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH hat auch die Transformation der Business Judgment Rule in deutsches Aktienrecht kürzlich ihr zwanzigjähriges Jubiläum gefeiert. Anders als der zweite Meilenstein des Urteils – die Pflicht des Aufsichtsrats zur Verfolgung von Haftungsansprüchen gegen Vorstandsmitglieder – ist die Business Judgment Rule zum Liebling der Rechtspraxis avanciert und seit nunmehr über 10 Jahren in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kodifiziert. Angesichts dieser Erfolgsgeschichte, der Regalreihen an Literatur über die Anwendung der Business Judgment Rule und nicht zuletzt der haftungsrechtlichen Bedeutung ist es geradezu verblüffend, dass ihr Verhältnis zum allgemeinen Sorgfaltsmaßstab bis heute nicht abschließend geklärt ist. Der Beitrag unternimmt den Versuch, die kodifizierte Business Judgment Rule zivilrechtsdogmatisch zu erfassen und in das System des geltenden Haftungsrechts einzuordnen. Er zeigt auf, warum § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG weder ein Haftungsprivileg noch einen vom allgemeinen Sorgfaltsmaßstab entkoppelten safe harbor begründet, dass die Business Judgment Rule vielmehr den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab für unternehmerische Entscheidungen verbindlich konkretisiert und welche haftungsrechtlichen Konsequenzen dieses Verständnis nach sich zieht.

I. Einführung
II. Entstehungsgeschichte

1. Rezeption der Business Judgment Rule durch die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH vom 21.4.1997
2. Kodifikation der Business Judgment Rule durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 22.9.2005
III. Keine Qualifikation als Haftungsprivileg
1. Vergleichsmaßstab: Die allgemeine Sorgfaltspflicht (§ 93 Abs. 1 Satz 1 AktG) im Hinblick auf unternehmerische Entscheidungen
2. Die kodifizierte Business Judgment Rule als vertretbare Konkretisierung des allgemeinen Sorgfaltsmaßstabs
3. Absicherung in der Entstehungsgeschichte
IV. Keine Qualifikation als vom allgemeinen Sorgfaltsmaßstab entkoppelter safe harbor
1. Das safe harbor-Konzept
2. Keine zurückgenommene Inhaltskontrolle im  Rahmen der Business Judgment Rule
3. Keine Verschärfung der Anforderungen an die  Entscheidungsvorbereitung durch die Business Judgment Rule gegenüber dem allgemeinen Sorgfaltsmaßstab
a) Prozedurale Anforderungen an die Entscheidungsfindung als Bestandteil der allgemeinen Sorgfaltspflicht
b) Keine Verschärfung der Anforderungen an die informationelle Entscheidungsvorbereitung durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG
c) Keine Verschärfung der Anforderungen an den Umgang mit Interessenkonflikten durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG
aa) Grundsätzliche Relevanz von Interessenkonflikten auch unter dem allgemeinen Sorgfaltsmaßstab
bb) Verbleibende Spielräume bei der Konkretisierung des Umgangs mit Interessenkonflikten
d) Kein abweichender Befund mit Blick auf Gremienentscheidungen
4. Keine Verdoppelung des Sorgfaltsmaßstabs durch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG
a) Enges safe harbor-Verständnis nur bei bewusst unterschiedlicher Konkretisierung der sowohl von § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG als auch § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG delegierten Anforderungen
b) Praktische Bedenken
c) Drohende Irrelevanz der weiteren Konkretisierung der Business Judgment Rule
d) Keine Übertragung doppelter Sorgfaltsstandards in das GmbH-Recht „ohne positivrechtliche Regelung“
e) Kein Zwang zur Anerkennung separater Sorgfaltsmaßstäbe durch die negative Formulierung der Business Judgment Rule
V. Verbindliche Konkretisierung des allgemeinen Sorgfaltsmaßstabs
VI. Haftungsrechtliche Konsequenzen

1. Einfache Pflichtverletzung bei jedem Verstoß  gegen die Business Judgment Rule
2. Vertretbarkeit der Entscheidung trotz Verstoßes gegen die Business Judgment Rule als Frage der Schadenszurechnung
3. Kein Abstandsgebot bei anderen als unternehmerischen Entscheidungen; keine Notwendigkeit analoger Anwendung abseits des Aktienrechts
VII. Abkehr von der restriktiven Interpretation der Business Judgment Rule?
1. Hausgemachte „Unerfüllbarkeit“ der Voraussetzungen der Business Judgment Rule in der rechtswissenschaftlichen Diskussion
2. Mangelndes Interesse der h.M. an den bei Verstößen gegen § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vermeintlich  anwendbaren „allgemeinen Grundsätzen“
3. Das HSH Nordbank-Urteil des 5. Strafsenats des BGH als Weckruf
4. Konsequenzen für die Diskussion um die Business Judgment Rule
VIII. Zusammenfassung

I. Einführung
„Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“

Formal handelt es sich bei § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG ohne Zweifel um einen Ausschlusstatbestand für die Annahme einer Pflichtverletzung. Nach verbreiteter Wahrnehmung, insbesondere in der Öffentlichkeit, begründet die kodifizierte Business Judgment Rule daher ein Haftungsprivileg für die Vorstandsmitglieder der Aktiengesellschaft. Bei genauerem Hinsehen entfaltet sich indes ein differenzierter Meinungsstand zu ihrer Rechtsnatur.

Die Regelungstechnik ist für das deutsche Zivil- und Gesellschaftsrecht in der Tat ungewöhnlich.  Gleichwohl umreißt § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG – ungeachtet seiner negativen Formulierung – in der Sache nicht anders als § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG einen Sorgfaltsmaßstab, indem er von Vorstandsmitgliedern verlangt, dass sie bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen können müssen, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Zudem bewegt sich die deutsche Business Judgment Rule allein auf der Ebene des materiellen Rechts. Anders als ihr amerikanisches Pendant  ist sie nicht in ein Gefüge prozessualer Vermutungsregelungen eingebettet.  Insbesondere gilt die Beweislastumkehr des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG de lege lata nach ganz herrschender Auffassung  und dem expliziten Verständnis des historischen Gesetzgebers  auch für die Voraussetzungen der Business Judgment Rule. Vorstandsmitglieder müssen mithin im Streitfall  auch bei unternehmerischen Entscheidungen beweisen, dass ihr Handeln die Voraussetzungen pflichtgemäßen Verhaltens erfüllt.

Für die Rechtsanwendung stellt sich daher die Frage, wie sich die Business Judgment Rule praktisch auf den gesetzlichen Haftungsmaßstab auswirkt. Konkret bestehen für Substanz und Wirkungsweise des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG drei Alternativen:

  • (i) Die Business Judgment Rule könnte – im Sinne eines Haftungsprivilegs für unternehmerische Entscheidungen – den Sorgfaltsmaßstab gegenüber § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG absenken.
  • (ii) Sie könnte – im Sinne eines von § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG entkoppelten safe harbor – ein Anforderungsprofil begründen, das die nach allgemeinen Grundsätzen gebotene Sorgfalt unberührt lässt.
  • (iii) Schließlich könnte sie – im Sinne einer Konkretisierung des allgemeinen Sorgfaltsmaßstabs – die aus § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG abzuleitenden Anforderungen an unternehmerische Entscheidungen schlicht verbindlich festlegen.

Die zivilrechtsdogmatische Erfassung des § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG als Haftungsprivileg, vom allgemeinen Sorgfaltsmaßstab entkoppelter safe harbor oder verbindliche Konkretisierung des Sorgfaltsmaßstabs hat dabei erhebliche Auswirkungen auf ...

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.03.2018 15:27
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

zurück zur vorherigen Seite