Aktuell in der AG

Kommt jetzt das "Unternehmensstrafrecht"? - Eine Bestandsaufnahme anlässlich der anstehenden Reform der Verbandssanktionierung (Baur, AG 2018, 457)

CDU/CSU und SPD haben sich im Koalitionsvertrag auf das Ziel verständigt, Wirtschaftskriminalität wirksam zu verfolgen und angemessen zu ahnden. Eine „Neuregelung des Sanktionsrechts für Unternehmen“ soll sicherstellen, dass bei Wirtschaftskriminalität auch Unternehmen stärker in die Verantwortung genommen werden. Viel spricht daher für eine baldige Neuregelung des Rechts der Verbandssanktionierung – zumal die intensiven strafrechtlichen Diskussionen der letzten Jahre zu den Möglichkeiten und Grenzen eines „Verbandssanktionsrechts“ oder auch „Unternehmensstrafrechts“ mittlerweile greifbare Früchte getragen haben. Der Beitrag nimmt dies zum Anlass für eine Bestandsaufnahme, die die Schwächen der bisherigen Rechtslage aufzeigt und die zentralen rechtspolitischen Grundsatzentscheidungen einer möglichen Reform skizziert, deren Folgen auch tief in das Gesellschaftsrecht hineinreichen könnten.

I. Verbandssanktionierung de lege lata
1. Verbandsgeldbuße als zentrales Sanktionsinstrument
2. Zuständigkeiten und Verfahrensrechte
3. Opportunitätsprinzip als rechtlicher Handlungsrahmen
II. Schwächen der bisherigen Verbandssanktionierung
1. Zweifelhafte Eignung der Verbandsgeldbuße als Sanktionsinstrument
a) Keine gesicherte Spürbarkeit der Verbandsgeldbuße und Vernachlässigung spezialpräventiver  Sanktionszwecke
b) Kompensation durch atypische Unternehmenssanktionen mit unklarer Legitimation
2. Ungleichbehandlung mangels gesetzlicher  Bindungen
a) Sanktionsgefälle durch unterschiedliche  Verfolgungspraktiken
b) Fehlende Transparenz bei der Zumessung der  Verbandsgeldbuße
3. Wechselwirkungen zwischen Individual- und  Unternehmensverantwortung
III. Rechtspolitische Grundsatzentscheidungen zur künftigen Verbandssanktionierung
1. Kleine oder große Lösung?
2. Gebundene Opportunität oder durchbrochene  Legalität?
3. Abschreckungsmodell oder Besserungsmodell?
4. Organisationsverantwortungsmodell oder Zurechnungsmodell?
5. „Sentencing guidelines“ oder freie Sanktionszumessung?
IV. Offene Flanken der Verbandssanktionierung
1. Kein belastbares rechtstatsächliches Fundament
2. Gestaltungsbedürftiges Verhältnis zur verwaltungsrechtlichen Aufsicht
3. Unklare Stellung zum gesellschaftsrechtlichen Pflichtenprogramm
V. Ausblick

I. Verbandssanktionierung de lege lata
1. Verbandsgeldbuße als zentrales Sanktionsinstrument

Das deutsche Recht kennt bislang keine eigenständige (strafrechtliche) Sanktionierung von Unternehmen und Verbänden.  Die Hauptreaktion des nationalen Sanktionsrechts auf unternehmensbezogene Kriminalität ist die Verbandsgeldbuße des § 30 OWiG, die eine Folge  von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten handlungs- und schuldfähiger  natürlicher Personen darstellt.  Voraussetzung einer Verbandsgeldbuße ist eine sog. Anknüpfungstat, durch die Pflichten der Personenvereinigung verletzt worden sind oder die juristische Person bereichert worden ist (§ 30 Abs. 1 OWiG). Die Verbandsgeldbuße nach deutschem Recht setzt dabei notwendig das Handeln eines in § 30 Abs. 1 OWiG genannten und der Leitungsebene zugehörigen Repräsentanten voraus. Eine individuelle Bestimmung des Repräsentanten ist allerdings nicht zwingend erforderlich (anonyme Verbandsgeldbuße).

Die Höhe der zu verhängenden Geldbuße ist im Grundsatz auf 10 Mio. € bei vorsätzlichen und 5 Mio. € bei fahrlässigen Anknüpfungstaten beschränkt (§ 30 Abs. 2 Satz 1 OWiG). Diese Höchstgrenze kann jedoch auf der Grundlage mehrerer Regelungen überschritten werden. In europarechtlich geprägten Rechtsgebieten wie dem Kartell- oder Wertpapierhandelsrecht wird die Obergrenze spezialgesetzlich abgeändert; das dort vorgesehene variable Höchstmaß richtet sich u.a. am konzernweiten Unternehmensumsatz aus (§ 81 Abs. 4 Satz 2 GWB; § 120 Abs. 17–22 WpHG). Unabhängig von spezialgesetzlichen Abänderungen sind höhere Geldbußen ferner dann zulässig, wenn andernfalls die erlangten wirtschaftlichen Tatvorteile nicht vollständig abgeschöpft werden könnten (§ 30 Abs. 3 i.V.m. § 17 Abs. 4 Satz 2 OWiG).

2. Zuständigkeiten und Verfahrensrechte
Die Zuständigkeit für die Verfolgung und Ahndung ist bei Verbandsgeldbußen nach § 30 OWiG von der Anknüpfungstat des Repräsentanten abhängig. Handelt es sich bei der Anknüpfungstat um eine Ordnungswidrigkeit, fällt sowohl die individuelle Verfolgung der Anknüpfungstat als auch die unternehmensbezogene Sanktionierung in die Zuständigkeit der jeweiligen Verwaltungsbehörde (§ 35 OWiG).  Handelt es sich um eine Straftat, ist hingegen grundsätzlich eine staatsanwaltschaftliche Verfolgungszuständigkeit und eine gerichtliche Ahndungszuständigkeit begründet.  Dadurch soll ein Zuständigkeitsgleichlauf hergestellt werden, der divergierende Entscheidungen und unverhältnismäßige Mehrfachbelastungen vermeidet.

Vereinzelt wird dieser Zuständigkeitsgleichlauf durchbrochen. Für die unternehmensbezogene Sanktionierung wettbewerbsbeschränkender Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB) ist etwa nach § 82 GWB regelmäßig die Zuständigkeit der Kartellbehörden begründet.  Der Gesetzgeber bezweckt mit solchen Zuständigkeitsspaltungen, dass die Sachkunde und die Erfahrung der Verwaltungsbehörden auch ...

 

Verlag Dr. Otto Schmidt vom 03.07.2018 16:10
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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