Aktuell in der AG

Darlegungs- und Beweislast bei Organhaftung und Gesamtrechtsnachfolge (Fleischer/Danninger, AG 2020, 193)

Ein aktuelles Urteil des OLG Köln lenkt den Blick auf Fragen der Darlegungs- und Beweislast im Organhaftungsstreit. Es gibt Anlass, sich ausführlicher mit den Entstehungs- und Begründungszusammenhängen des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG zu beschäftigen. Auf dieser allgemeinen Grundlage wird sodann die Spezialfrage nach der Beweislastverteilung im Falle einer Gesamtrechtsnachfolge auf Vorstandsseite erörtert.

I. Besondere Fälle und allgemeine Regeln

II. Herkunft und Entwicklungslinien der organhaftungsrechtlichen Beweislastverteilung

1. Frühe Anfänge im Auftragsrecht

2. Gescheiterte Gesetzesvorschläge im Rahmen der Aktienrechtsreform von 1884

3. Kodifizierung der Beweislastumkehr im Aktiengesetz von 1937

4. Verfestigung im Aktiengesetz von 1965 und in jüngeren Gesetzesmaterialien

5. Handhabung in der höchstrichterlichen Rechtsprechung

III. Beweislastverteilung und Gesamtrechtsnachfolge

1. Meinungsstand

2. Stellungnahme

IV. Fallspezifische Ausführungen des OLG Köln

V. Beweislastverteilung bei ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern

VI. Ausblick: Beweislastverteilung aus rechtspolitischer Sicht

VII. Ergebnisse


I. Besondere Fälle und allgemeine Regeln
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Besondere Fälle bilden mitunter einen Prüfstein für die Überzeugungskraft allgemeiner Regeln. Dies veranschaulicht ein aktuelles Urteil des OLG Köln zur Vorstandshaftung. Die allgemeine Regel, um die es geht, ist § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG, der dem auf Schadensersatz in Anspruch genommenen Vorstandsmitglied nach herrschender Lesart die Darlegungs- und Beweislast dafür aufbürdet, dass es seinen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist oder jedenfalls schuldlos gehandelt hat. Die Besonderheit liegt darin, dass sich die Klage gegen den Erben eines Vorstandsmitglieds richtet. Konkret streiten die Parteien um die Haftung des Landes Nordrhein-Westfalen als Fiskalerben eines zwischenzeitlich verstorbenen Alleinvorstands einer AG wegen verschiedener Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit einem gescheiterten Joint Venture. Die Vorinstanz hatte die Klage in weiten Teilen abgewiesen. Das OLG Köln hat der Berufung der klagenden AG stattgegeben, weil die Vorinstanz die Darlegungslast in entscheidungserheblicher Art und Weise verkannt habe. Es kommt hierbei in seinen Rechtsausführungen sogleich auf die Frage zu sprechen, ob § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG für den Fall einer Gesamtrechtsnachfolge auf Seiten des in Anspruch genommenen Vorstandsmitglieds teleologisch zu reduzieren ist. Der für das Gesellschaftsrecht zuständige 18. Zivilsenat lässt die Antwort darauf letztlich offen und formuliert folgende Leitsätze:

„Grundsätzlich trägt der Vorstand bei einer Inanspruchnahme gemäß § 93 Abs. 1 AktG die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass er nicht pflichtwidrig gehandelt hat. Die Frage, ob dies auch noch gilt, wenn der Erbe des Vorstands in Anspruch genommen wird, bedarf jedenfalls dann keiner Entscheidung, wenn dieser sich zur Verteidigung auf nicht näher substantiierte Negativtatsachen beruft, weil ihm hierfür bereits nach allgemeinen Regeln eine sekundäre Darlegungslast obliegt.“

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Das Urteil des OLG Köln lädt dazu ein, sich eingehender mit der Beweislast bei der Organhaftung im Allgemeinen und ihrer Verteilung bei einer Gesamtrechtsnachfolge im Besonderen zu beschäftigen. Hierfür bedarf es zunächst eines vergewissernden Rückblicks auf die Herkunft des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG und seine weiteren Entwicklungslinien in der höchstrichterlichen Rechtsprechung (II.). Sodann ist auf die Streitfrage der Beweislastverteilung bei einer Gesamtrechtsnachfolge auf Vorstandsseite (III.) sowie auf die fallspezifischen Ausführungen des OLG Köln (IV.) einzugehen. Schließlich werden mit der Beweislastverteilung bei ausgeschiedenen Organmitgliedern (V.) und der rechtspolitischen Reformdiskussion um die organhaftungsrechtliche Beweislast (VI.) noch zwei benachbarte Problemfelder gestreift.

II. Herkunft und Entwicklungslinien der organhaftungsrechtlichen Beweislastverteilung
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Wer über den Sinn und Zweck einer Regelung und ihre teleologische Reduktion räsoniert, muss sich zuerst mit ihren Entstehungs- und Begründungszusammenhängen vertraut machen: Tief ist der Brunnen der Vergangenheit – auch für die Beweislastregel des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG. Ihre historischen Ursprünge waren bisher nur ansatzweise aufgearbeitet. Ein verdienstvoller Aufsatz von Wulf Goette verfolgt sie bis zur frühen Rechtsprechung des RG und zur rechtspolitischen Debatte im Vorfeld der großen Aktienrechtsreform von 1884. Noch tiefer dringt nun eine Hamburger Doktorarbeit vor, die auch die frühen Anfänge der Vorschrift aufhellt.

1. Frühe Anfänge im Auftragsrecht
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Die vorkodifikatorische Spurensuche führt zurück zur Mandatshaftung im 19. Jahrhundert und ihren römischrechtlichen Wurzeln. Als frühe Bezugsautorität lässt sich eine Entscheidung des Oberappellationsgerichts Lübeck aus dem Jahre 1845 ausmachen – jenem Gericht, das 1820 als gemeinsame dritte Instanz für die vier freien Städte des Deutschen Bundes (Hamburg, Bremen, Lübeck, Frankfurt/M.) geschaffen worden war und auf dem Gebiet des Handelsrechts auch in der Rechtswissenschaft hohes Ansehen genoss. Unter zweifelhafter Berufung auf zwei vormundschaftsrechtliche Digestenstellen gelangten die Lübecker Richter dort zur ...

 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.03.2020 17:05

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