Aktuell in der AG

Rechtsschutzlücken bei Bezifferung einer Delisting-Klage (Harnos, AG 2020, 601)

Die Reform des § 39 BörsG im Jahr 2015 erhitzte die Gemüter im Schrifttum, spielte aber in der Rechtsprechung bislang keine Rolle. Nachdem der XI. Zivilsenat des BGH eine unbezifferte Klage auf angemessene Abfindung in einem Hinweisbeschluss vom 22.10.2019 für unzulässig erklärte (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO), dürften Delisting-Klagen weiterhin selten bleiben. Damit entstehen für die Aktionäre der rückzugswilligen Emittenten erhebliche Rechtsschutzlücken, die de lege lata durch eine Lockerung des Bezifferungserfordernisses geschlossen werden können. In diesem Beitrag wird aufgezeigt, in welchen Szenarien unbezifferte Delisting-Klagen keinen verfahrensrechtlichen Bedenken ausgesetzt sind.

I. Einleitung

II. Gesetzliche Rahmenbedingungen

1. Materiell-rechtlicher Schutzstandard und Klagemöglichkeiten beim Delisting

2. Bezifferungserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO

III. Die Bestimmtheitsanforderungen in der BGH-Rechtsprechung

IV. Beschränkte Aussagekraft der Gesetzesmaterialien zur Delisting-Reform

1. Keine Hinweise auf § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in der rechtspolitischen Diskussion

2. Fehlende Bedeutung des Verweises auf das  Postbank-Urteil

3. Keine Anwendung des SpruchG durch die Hintertür

V. Anforderungen an die Bestimmtheit einer  Delisting-Klage

1. Die Klageszenarien

2. Notwendigkeit der Klagebezifferung im ersten und vierten Szenario

3. Zulässigkeit der unbezifferten Delisting-Klage im zweiten und dritten Szenario

a) Faktische Unmöglichkeit der Unternehmensbewertung durch Anleger

b) Prozesskostenrisiken trotz § 92 Abs. 2 Nr. 2 ZPO

c) Sachnähe des Bieters

4. Rechtsfolgenanalyse: Das Dilemma der klagewilligen Aktionäre

5. Verbleibende Korrekturinstrumente

a) Formulierung des Klageantrags

b) Enge Fassung der Ausnahmetatbestände in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG

c) Abschließender Ausnahmekatalog in § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG

d) Prozesskosten bei unbezifferten Delisting-Klagen

VI. Zusammenfassung in Thesen
 


I. Einleitung
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Die Aufgabe der „Macrotron“-Grundsätze im „Frosta“-Beschluss löste eine kontroverse Debatte über den Aktionärsschutz beim Delisting aus, die in einer Reform des § 39 BörsG mündete. Die Neuregelung wurde in zahlreichen Abhandlungen aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln beleuchtet. Obwohl die Ausführungen zum neuen Delisting-Regime ein Bibliothekenregal füllen, gingen nur vereinzelte Autoren ausdrücklich auf ein verfahrensrechtliches Problem ein, das sich für rechtsschutzsuchende Anleger als eine unüberwindbare Hürde erweisen kann: die Bezifferung des Klageantrags auf Zahlung einer angemessenen Abfindung. Während einige Stimmen eine solche Bezifferung für entbehrlich halten, stehen der XI. Zivilsenat des BGH und ein Teil der Literatur auf dem Standpunkt, dass eine unbezifferte Klage auf angemessene Abfindung wegen § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO unzulässig sei. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass die Extrempositionen in Rechtsprechung und Schrifttum nicht restlos überzeugen. Sie sind zu pauschal, weil sie die Unterschiede zwischen den denkbaren Klageszenarien in Delisting-Fällen nicht hinreichend berücksichtigen.

II. Gesetzliche Rahmenbedingungen
1. Materiell-rechtlicher Schutzstandard und Klagemöglichkeiten beim Delisting

2
Bevor herausgearbeitet wird, ob und inwieweit am Bezifferungserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO in Delisting-Fällen festzuhalten ist, ist ein Blick auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu werfen. Die Anforderungen an den Klageantrag hängen eng mit den materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Delistings und den Rechtsschutzmöglichkeiten der Anleger zusammen. Um eine Verständniskulisse für die verfahrensrechtlichen Probleme zu schaffen, werden deshalb die einschlägigen Regelungen in gebotener Kürze dargestellt: Nach § 39 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 BörsG ist ein vollständiges Delisting auf Antrag des Emittenten zulässig, wenn ein Erwerbsangebot nach den übernahmerechtlichen Vorschriften unterbreitet wurde. Das Erwerbsangebot muss gem. § 39 Abs. 3 Satz 2 BörsG i.V.m. § 31 WpÜG auf Gegenleistung in Euro lauten und mindestens dem gewichteten durchschnittlichen inländischen Börsenkurs der Wertpapiere während der letzten sechs Monate vor der Veröffentlichung der Angebotsunterlage entsprechen. In den Fällen des § 39 Abs. 3 Satz 3 und 4 BörsG, in denen der Börsenkurs wegen Kursverzerrung nicht aussagekräftig ist, richtet sich die Abfindungshöhe nach dem inneren Unternehmenswert, der anhand einer Bewertung des Emittenten ermittelt wird; die Praxis dürfte auf das Ertragswertverfahren nach IDW S 1 zurückgreifen.

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Halten Anleger die Angebotshöhe für zu niedrig, können sie auf Zahlung einer angemessenen Abfindung vor den Zivilgerichten klagen. Die Möglichkeit der zivilrechtlichen Klage ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 39 BörsG, der nur die verwaltungsrechtlichen Voraussetzungen des Delistings regelt. Aus der Bezugnahme auf § 31 WpÜG und den Gesetzesmaterialien folgt aber, dass der zivilrechtliche Anlegerschutz den übernahmerechtlichen Kautelen nachgebildet werden soll. Namentlich verweisen die Materialien auf das Postbank-Urteil des BGH, in dem der II. Zivilsenat im übernahmerechtlichen Kontext einen Zahlungsanspruch der Aktionäre für den Fall bejaht hat, dass das Übernahmeangebot keine angemessene Höhe hat.

2. Bezifferungserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO
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Delisting-Klagen sind gewöhnliche Zahlungsklagen, die den Anforderungen des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO entsprechen müssen. Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss die Klageschrift einen bestimmten Antrag enthalten. Bei einer Zahlungsklage wird dem Bestimmtheitserfordernis grundsätzlich nur dann Genüge getan, wenn der Antrag beziffert ist. Eine solche Regelung ist sachgerecht: Der Kläger kann das Ausmaß seines Anspruchs i.d.R. besser einschätzen als der Beklagte. Im Hinblick auf diese Informationsasymmetrie ist es folgerichtig, dass ...

 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 17.08.2020 16:45

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