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Non-Compliance, Kursspezifität und Kursrelevanz - Zur Relevanz der Aufdeckungswahrscheinlichkeit im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 MAR (Habersack, AG 2020, 697)

Zu den mehr oder weniger „weißen Flecken“ des Kapitalmarktrechts gehört die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Aufkommen eines Non-Compliance-Verdachts den Tatbestand der Insiderinformation erfüllt: Kommt es im Zusammenhang mit dem Erfordernis einer präzisen Information und im Rahmen der Kursrelevanz darauf an, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Non-Compliance-Verdacht aufgedeckt wird und damit zu finanziellen Belastungen des Emittenten führt, oder ist für die Zwecke des Tatbestands der Insiderinformation das öffentliche Bekanntwerden des Fehlverhaltens und der Eintritt der in diesem Fall zu erwartenden finanziellen Folgen zu unterstellen? Der Beitrag geht dieser bislang wenig diskutierten Frage unter Rückgriff auf allgemeine Grundsätze über den Insiderinformationscharakter von Zwischenschritten im Rahmen gestreckter Sachverhalte nach und zeigt auf, dass der Kern des Problems nicht erst im Rahmen der Kursrelevanz liegt, sondern bereits auf Ebene der Kursspezifität und der damit im Zusammenhang stehenden Dogmatik der Zwischenschritte angesiedelt ist.

I. Einführung

II. Non-Compliance als gestreckter Sachverhalt

III. Aufdeckungswahrscheinlichkeit und Kursspezifität

1. Grundlagen

2. Zwischenschritte im Besonderen

a) Ausgangspunkt

b) Zwischenschritte mit und ohne eigenständige  Insiderrelevanz

c) Nachvollzug von Daimer/Geltl in Art. 7 Abs. 3 MAR

d) Folgerungen aus der Kumulation von Kursspezifität und Kursrelevanz

e) Keine relevante Schutzlücke

IV. Aufdeckungswahrscheinlichkeit und Kursrelevanz

1. Präzisierung der Fragestellung

2. Abhängigkeit der Kursrelevanz des Non-Compliance-Sachverhalts vom Endereignis

3. Wortlaut, Systematik und Telos des Art. 7 Abs. 1 MAR

a) Wortlaut

b) Systematik

c) Telos

V. Wesentliche Ergebnisse und abschließendes Fazit


I. Einführung

1
In einem kürzlich erschienenen, auf ein Rechtsgutachten zurückgehenden Festschriftenbeitrag spricht Klöhn der Frage, ob die Kursrelevanz einer Insiderinformation von deren Aufdeckungswahrscheinlichkeit abhängt, das Potential zu, „zu einem Fixpunkt der wissenschaftlichen Diskussion zu werden.“ Paradigmatisch sind Non-Compliance-Sachverhalte, wie sie in der Praxis immer wieder begegnen und zum Teil erhebliche finanzielle Folgen zum Nachteil des Emittenten auslösen, sei es in Form eines Bußgeldes oder von Kundenklagen. Nach Ansicht von Klöhn begründen derlei Sachverhalte unabhängig davon Insiderinformationen i.S.v. Art. 7 Abs. 1 MAR, ob und, wenn ja, mit welcher Wahrscheinlichkeit auch unabhängig von einer Ad hoc-Veröffentlichung mit der Aufdeckung des Fehlverhaltens zu rechnen ist.

2
Vorbehaltlich eines Aufschubs der Veröffentlichung nach Art. 17 Abs. 4, 5 MAR wäre es dem Emittenten danach also nicht möglich, den Compliance-Verstoß intern aufzuklären, das Fehlverhalten abzustellen und zu ahnden und die Compliance-Vorkehrungen nachzujustieren, im Übrigen aber darauf zu setzen, dass der Non-Compliance-Sachverhalt nicht das Licht der Welt erblickt und damit sanktionsfrei bleibt. Dies ist nicht zuletzt deshalb bemerkenswert, weil auch das sich abzeichnende Verbandssanktionengesetz es weder dem Emittenten noch seinen Organmitgliedern zur Pflicht macht, im Unternehmen bekanntgewordene Straftaten anzuzeigen; auch künftig sollen mit anderen Worten organschaftliche Pflicht und Befugnis der Geschäftsleiter, zwischen einer Kooperation mit den Behörden nebst damit verbundener Aussicht auf Sanktionenminderung und der Chance, bei Nichtbekanntwerden der Tat sanktionsfrei zu bleiben, abzuwägen, unberührt bleiben. Wäre die Aufdeckungswahrscheinlichkeit tatsächlich, wie von Klöhn behauptet, insiderrechtlich irrelevant, drohte ein weiterer Konflikt zwischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrecht, vergleichbar etwa dem Konflikt zwischen kapitalmarktrechtlicher Informationshaftung des Emittenten und gesellschaftsrechtlichem Kapitalschutz.

3
Damit steht das Untersuchungsprogramm fest. Zu beginnen ist mit den insiderrechtlichen Grundsätzen über gestreckte Sachverhalte – denn um einen solchen handelt es sich bei dem Non-Compliance-Sachverhalt –, bevor zur Frage der Relevanz der Aufdeckungswahrscheinlichkeit im Rahmen der Kursspezifität und sodann im Rahmen der Kursrelevanz Stellung zu nehmen ist.

II. Non-Compliance als gestreckter Sachverhalt
4
Nach Art. 7 Abs. 1 lit. a MAR ist eine Insiderinformation eine nicht öffentlich bekannte präzise Information, die direkt oder indirekt einen oder mehrere Emittenten oder ein oder mehrere Finanzinstrumente betrifft und die, wenn sie öffentlich bekannt würde, geeignet wäre, den Kurs dieser Finanzinstrumente oder den Kurs damit verbundener derivativer Finanzinstrumente erheblich zu beeinflussen. Für die Zwecke der Untersuchung sind, wie schon erwähnt, allein das Erfordernis einer präzisen Information – mithin die Kursspezifität – und das weitere Erfordernis der Eignung zur Kursbeeinflussung – die Kursrelevanz – von Interesse. Während Kursspezifität nach Art. 7 Abs. 2 MAR insbesondere voraussetzt, dass die Information spezifisch genug ist, um einen Schluss auf die mögliche Auswirkung einer Reihe von bereits eingetretenen oder künftigen Umständen oder eines bereits eingetretenen oder künftigen Ereignisses auf den Kurs eines Finanzinstruments zuzulassen, ist Kursrelevanz nach Art. 7 Abs. 4 MAR gegeben, wenn „ein verständiger Anleger die Information wahrscheinlich als Teil der Grundlage seiner Anlageentscheidungen nutzen würde“.

5
Bei einem Non-Compliance-Sachverhalt handelt es sich freilich im Allgemeinen um einen „gestreckten Vorgang“. Bei einem solchen Vorgang ist nach Art. 7 Abs. 3 MAR ein Zwischenschritt als Insiderinformation anzusehen, „falls er für sich genommen die Kriterien für eine Insiderinformation“ erfüllt. Damit greift die MAR bekanntlich die unter Geltung der Marktmissbrauchs-Richtlinie und des § 13 WpHG a.F. ergangene Daimler/Geltl-Rechtsprechung des EuGH und des BGH auf, wonach ...
 


Verlag Dr. Otto Schmidt vom 15.09.2020 13:04
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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