Aktuell in der AG

Governance in börsennotierten und anderen bedeutenden Aktiengesellschaften (Hopt / Kumpan, AG 2021, 129)

Die Corporate Governance der börsennotierten Aktiengesellschaft wird mit dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) abermals reformiert. Der Gesetzgeber verspricht sich von verpflichtendem Kontroll- und Risikomanagementsystem und verschärften Anforderungen an den Sachverstand im Gesamtaufsichtsrat und im Prüfungsausschuss eine Verbesserung der aktienrechtlichen Organisationsverfassung. Der Beitrag würdigt das Reformvorhaben kritisch und ordnet es in den breiteren Kontext der Governance-Diskussion ein.


I. Governance-Reformen nach Wirecard

1. Governance-Defizite bei Wirecard und das Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG)

2. Die grundsätzlichere europäische Reformdiskussion

II. Reformen auf Vorstandsebene

1. Angemessenes und wirksames internes Kontroll- und Risikomanagementsystem bei börsennotierten Gesellschaften (§ 91 Abs. 3 AktG-E)

2. Compliance-Management-System mit einer Whistleblowing-Funktion bei börsennotierten und anderen Gesellschaften

a) Einrichtung eines Compliance-Management-Systems

b) Einrichtung einer Whistleblowing-Funktion

3. Krisenfrüherkennung und Krisenmanagement bei haftungsbeschränkten Unternehmensträgern (StaRUG)

III. Reformen auf Aufsichtsratsebene

1. Sachverstand im Aufsichtsrat und im Prüfungsausschuss auf den Gebieten der Rechnungslegung und der Abschlussprüfung bei Gesellschaften von öffentlichem Interesse (§ 100 Abs. 5, § 107 Abs. 4 Satz 2 AktG-E, § 324 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 HGB-E)

a) Erfordernis zweier Finanzexperten

b) Erforderlicher Sachverstand bei den Vorsitzenden des Aufsichtsrats und des Prüfungsausschusses

2. Prüfungsausschuss bei Unternehmen von öffentlichem Interesse

a) Bestellung und Aufgaben eines Prüfungsausschusses (§ 107 Abs. 4 und Abs. 3 Satz 2 AktG-E, § 324 Abs. 1 HGB-E)

b) Anforderungen an die Unabhängigkeit im Prüfungsausschuss (§ 324 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 HGB-E) und im Aufsichtsrat

3. Information des Prüfungsausschusses und des Aufsichtsrats

a) Unmittelbares Auskunftsrecht des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses bei Leitern von Zentralbereichen (§ 107 Abs. 4 Satz 3 und 4 AktG-E)

b) Unmittelbares Informationsrecht der Leiter der betreffenden Zentralbereiche gegenüber dem Prüfungsausschussvorsitzenden

c) Information des Aufsichtsratsvorsitzenden bei den Leitern des internen Kontroll‑, Risikomanagement‑, internen Revision- und Compliance-Management-Systems

4. Zur Diskussion um weitere Governance-Reformvorschläge zum Aufsichtsrat

IV. Thesen und Zusammenfassung

 

I. Governance-Reformen nach Wirecard

1. Governance-Defizite bei Wirecard und das Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG)


Der Bilanz- und Finanzskandal bei Wirecard war in seinen Dimensionen so unerwartet und gravierend, dass dringender Reformbedarf besteht, ganz sicher zur Bilanzkontrolle, zum Abschlussprüferrecht und zur Aufsicht, aber maßgeblich auch zur Corporate Governance von Aktiengesellschaften, namentlich von börsennotierten. Der Aktionsplan der Bundesregierung vom Oktober 2020 hatte denn auch unter zahlreichen anderen Maßnahmen solche zur Stärkung der Corporate Governance von börsennotierten Unternehmen angekündigt, insbesondere zur Etablierung angemessener und wirksamer interner Kontroll- und Risikomanagementsysteme, zur obligatorischen Einrichtung eines Prüfungsausschusses und zur Stärkung der Informationsrechte des Aufsichtsrats bei Gesellschaften, die Unternehmen des öffentlichen Interesses sind. Auch Whistleblowing war darin angesprochen. Der Referentenentwurf hat das konkretisiert und der Regierungsentwurf des Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetzes (FISG) führt das weiter. Im Folgenden soll die Governance in börsennotierten und anderen bedeutenden Aktiengesellschaften auf den Prüfstand gestellt werden. Dabei geht es um die interne Corporate Governance, die im Wesentlichen Vorstand und Aufsichtsrat betrifft, nicht auch um die externe Corporate Governance durch die Märkte, namentlich durch Übernahmeangebote.

Bei Wirecard gab es eklatante Mängel der Corporate Governance. So bestand der Aufsichtsrat eine ganze Zeit nur aus fünf Personen, erst seit 2019 umfasste er sechs Personen. Lange Zeit gab es überhaupt keinen Prüfungsausschuss, anders wurde das erst ab 2019. Der Aufsichtsratsvorsitzende war zeitweise auch Vorsitzender des Prüfungsausschusses. Unter § 161 AktG wurden zahlreiche Abweichungen von den Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodexes (DCGK) erklärt. Unter anderem wurde die 90-Tage-Frist des DCGK, die die Veröffentlichung des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichts empfiehlt, 10 nicht eingehalten. Auch der financial expert im Aufsichtsrat war nicht namentlich genannt. Der Ablauf der Affaire ist bekannt. Sie stellte sich als ein Betrug größten Ausmaßes mit offenbar vielen Mitwissern heraus. Es bleibt die Frage, warum der Markt nicht schon auf die ersten Berichte in der Finanzpresse und später, als diese sich verdichteten, reagiert hat. Ähnliche Fragen stellen sich bei dem Durchsetzungsmechanismus comply or explain nach § 161 AktG. Sie signalisieren Bedarf für weitere empirische Untersuchungen. Der Markt reagiert wohl nicht schon auf allgemeinere Corporate Governance-Mängel, sondern erst auf gravierendere, und dann kommt es darauf an, dass hinreichende Anzeichen für solche an den Markt herangetragen werden, etwa durch Whistleblower und die Finanzpresse.

2. Die grundsätzlichere europäische Reformdiskussion

Die Governance-Reformdiskussion nach Wirecard ist in erster Linie eine deutsche Diskussion. Darüber darf die ebenso akute, grundsätzlichere Governance-Reformdiskussion nicht übersehen werden, die auf europäischer und internationaler Ebene geführt wird. Dabei geht es um Langfristigkeit und ESG (Environment Social Governance) mit unabdingbaren Pflichten des board bzw. von Vorstand und Aufsichtsrat. Die Europäische Kommission hat dazu eine öffentliche Befragung eröffnet, die auf eine Abkehr vom shareholder value hin auf eine zwingende stakeholder interests-Ausrichtung aller Unternehmen ausgerichtet ist. Grundlage ist eine für die Europäische Kommission erstellte Untersuchung von Ernst & Young, die inhaltlich und methodisch hoch problematisch ist. Sie wirft das Problem der Kurzfristigkeit (short termism) mit dem der social responsibility zusammen. So sehr das Anliegen der Förderung und Durchsetzung von ESG, Menschenrechten und allgemeiner eines responsible capitalism berechtigt ist, so undifferenziert ist das Vorpreschen der Kommission zur Durchsetzung, was in der Konsequenz bis hin zu einem stakeholder suit führen könnte.

Damit zusammen hängt eine aus dem Vereinigten Königreich ausgehende Diskussion um den Zweck der Gesellschaft (purpose of the corporation). Dafür werben vor allem ein Kreis um Colin Mayer und die British Academy. Die Hoffnung, die Probleme der modernen Gesellschaft durch die zwingende Wahl eines corporate purpose zu lösen, ist kühn und zu Recht kritisiert worden. Auch der in diesem Zusammenhang gemachte Vorschlag einer besonderen Rechtsform für sozial orientierte Unternehmen, etwa einer gemeinnützigen GmbH in Anlehnung an die US-amerikanische benefit corporation, ist (..)



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 12.02.2021 13:56
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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