Aktuell in der AG

Einvernehmliche Dienstbefreiung von Vorstandsmitgliedern (Seibt/Klausmann, AG 2021, 169)

Nicht zuletzt die #stayonboard-Initiative macht deutlich, dass eine erhöhte Nachfrage nach kurz- bis mittelfristigen Unterbrechungen der Amtstätigkeit der Vorstandsmitglieder besteht. Es handelt sich primär um Auszeiten bei schwerer Krankheit, während einer sog. Mutterschutzfrist, Sabbaticals, Elternzeit oder wegen behördlicher oder gerichtlicher Verfahren. Der Beitrag zeigt, unter welchen Voraussetzungen das Rechtsinstitut der einvernehmlichen Dienstbefreiung eine geeignete Lösungsstruktur für diese Situationen sein kann, welche Rechtsfolgen und Haftungsrisiken bei einer einvernehmlichen Dienstbefreiung eintreten und welche begleitenden Maßnahmen die Unternehmen ergreifen können.

I. Einleitung
II. Die einvernehmliche Dienstbefreiung

1. Dogmatische Grundlage
2. Zulässigkeitsvoraussetzungen
a) Nachvollziehbare Dienstverhinderung von absehbarer Dauer
b) Erhebliches Interesse an weiterer Zusammenarbeit
c) Pflichtgemäße Ermessensentscheidung des Aufsichtsrats
d) Gewähr der weiteren Teilnahme an der Gesamtverantwortung?
3. Rechtsfolgen
a) Wegfall der Ressortverantwortung
b) Fortbestand der Gesamtverantwortung
4. Vergleich mit anderen Gestaltungsinstrumenten
a) Abberufung (§ 84 Abs. 3 AktG)
b) Suspendierung
c) Einvernehmliches Ausscheiden mit aufschiebend befristeter Wiederbestellung
d) Bestellung eines Stellvertreters (§ 105 Abs. 2 Satz 1 AktG)
5. Inhaltliche Gestaltung und flankierende  Maßnahmen
a) Inhalt und Umfang der Dienstbefreiung
b) Flankierende Maßnahmen
III. Haftungsrisiken
1. Aufsichtsrat
2. Betroffenes Vorstandsmitglied
a) Haftung im Rahmen der residualen Gesamtverantwortung
b) Haftungsausschluss bei Unmöglichkeit bzw.  Unzumutbarkeit
IV. Zusammenfassung


I. Einleitung

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Die sehr hohen Anforderungen einer Vorstandstätigkeit, insbesondere heute unter den durch die Leitbegriffe der Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity (VUCA) definierten Rahmenbedingungen,  führen nicht nur zu tendenziell kürzeren Amtszeiten insbesondere der Vorstandsvorsitzenden großer Börsenunternehmen, sondern auch zu Krankheiten, die teilweise zum Ausschluss aus dem Organamt zwingen,  teilweise aber auch nach einer mehrmonatigen Behandlung und Rekonvaleszenzphase überwunden werden können.  Daneben gibt es einen berechtigten Anschauungswandel über unterschiedliche Formen der Aufteilung beruflicher und nicht-beruflicher Tätigkeitsphasen, sei es aus Anlass der Geburt von Kindern oder sei es der Wunsch nach einer mehrmonatigen Sabbatical-Zeit.  Hierzu gehört auch die aktuelle Initiative „#stayonboard“, die für ein gesetzlich normiertes Recht auf „Ruhenlassen“ des Vorstandsmandats in bestimmten Fällen eintritt, und zwar mit der Begründung, dass das geltende Recht insoweit nur begrenzte und haftungsträchtige Möglichkeiten $S$eröffne.  Nach einem entsprechenden Antrag der FDP-Bundestagsfraktion  hat sich kürzlich auch die Justizministerkonferenz mit diesem Vorschlag befasst und einen befürwortenden Beschluss gefasst.  Schließlich kommt es aufgrund der international erhöhten Regulierungstätigkeit (mit einer intensivierten „Kriminalisierungstendenz“) zu häufigeren behördlichen und gerichtlichen Untersuchungen und Verfahren während der Amtszeit von Vorstandsmitgliedern, die jedenfalls in „Spitzenbelastungsperioden“ dazu führen können, dass das betreffende Vorstandsmitglied eine „Auszeit“ nimmt, um sich schwerpunktmäßig mit diesen Prozessen zu beschäftigen. Vor diesen diversen Hintergründen nimmt sich dieser Beitrag vor, das Rechtsinstitut der einvernehmlichen Dienstbefreiung in seinen Voraussetzungen, seiner Rechtsfolgen und Haftungsrisiken näher zu analysieren (und einige Klarstellungen vorzunehmen); dabei werden auch der Unternehmenspraxis Vorschläge für eine konkrete Ausgestaltung und für die Dienstbefreiung begleitende Maßnahmen vorgeschlagen.

II. Die einvernehmliche Dienstbefreiung
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Ist ein Vorstandsmitglied für einen längeren, aber noch absehbaren Zeitraum gehindert, seine Arbeitskraft im geschuldeten Umfang der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, kann unter bestimmten Voraussetzungen eine einvernehmliche Dienstbefreiung vereinbart werden. 

1. Dogmatische Grundlage
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Die einvernehmliche Dienstbefreiung ist gesetzlich nicht geregelt. Im aktienrechtlichen Schrifttum wird sie allgemein anerkannt; die Rechtsprechung hat sich mit diesem Gestaltungsinstrument dagegen bislang nicht befasst. Anders als die Amtsniederlegung oder das einverständliche Ausscheiden  führt die Dienstbefreiung nicht zur Beendigung des Vorstandsamtes, sondern lediglich zur temporären Modifizierung der Pflichtenstellung des betreffenden Mitglieds. 

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Aus dogmatischer Sicht ist die einvernehmliche Dienstbefreiung eine Ausprägung der umfassenden, in §§ 84, 87, 88 und 89 AktG niedergelegten Personalkompetenz des Aufsichtsrats über den Vorstand.  Ebenso wie der Aufsichtsrat etwa im Rahmen einer Geschäftsordnung für den Vorstand nach § 77 Abs. 2 Satz 1 AktG abstrakt festlegen kann, wie die einzelnen Vorstandsmitglieder ihre geschäftsführende Tätigkeit wahrzunehmen haben,  kann er – bei Beachtung eines Kernbereichs der Organisationsautonomie des Vorstands – Regelungen zur Binnenorganisation und Geschäftsverteilung auch im Einzelfall treffen. Da sich die Regelung auf die temporäre Befreiung von bestimmten Aspekten seiner Pflichtenstellung beschränkt, ohne zugleich die Rechte des betroffenen Mitglieds zu beschneiden, dürfte dessen Einverständnis nicht einmal zwingend erforderlich sein. In der Praxis geht der Wunsch zur Dienstbefreiung allerdings ohnehin regelmäßig von dem betroffenen Organmitglied aus.

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen
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In Bezug auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen der einvernehmlichen Dienstbefreiung hat die rechtswissenschaftliche Literatur zumindest einige gefestigte Konturen herausgebildet:  Sie wird danach als zulässig erachtet, wenn der (i) Aufsichtsrat bei einer relativ kurzfristigen Verhinderung eines Vorstandsmitglieds das Ende der Verhinderung absehen kann und (ii) ein erhebliches Interesse der Gesellschaft besteht, das Vorstandsmitglied für eine Amtsausübung auf mittlere bzw. längere Zeit zu halten bzw. dieses für ...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 02.03.2021 13:08
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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