Aktuell in der AG

Vorbefassung im Vorstand als Haftungsrisiko --- Organschaftliche Treuepflicht - Business Judgment Rule - Interessenkonflikt - Organhaftung (Selzner/Daghles, AG 2022, 466)

Die in § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG kodifizierte Business Judgment Rule hat in der Praxis bekanntlich eine herausragende Bedeutung für das Haftungsregime von Vorstandsmitgliedern einer Aktiengesellschaft. Werden deren Voraussetzungen bei der Gremienentscheidung beachtet und entsprechend dokumentiert, öffnet sich ein weites Geschäftsleiterermessen mit der für die handelnden Organmitglieder haftungsrelevanten Folge, dass der Vorstandsbeschluss einer nachträglichen gerichtlichen Überprüfung entzogen wird. Wesentlich für die Haftungsprivilegien der Business Judgment Rule ist u.a. der Umgang mit Interessenkonflikten. Allerdings haben sich verlässliche Kriterien zur Vermessung dieser Rechtsfigur trotz einer zunehmenden Thematisierung in der Literatur nur in Ansätzen herauskristallisiert. In der Praxis stellt sich insofern nicht selten Verunsicherung bei der Frage ein, ob bereits eine schlichte Vorbefassung eines oder mehrerer Vorstände mit dem Gegenstand der Beschlussfassung zu einem Interessenkonflikt und damit zum Verlust der Haftungsprivilegien der Business Judgment Rule führen kann.

I. Einleitung
II. Pflichtenregime und Business Judgment Rule
III. Voraussetzungen eines Interessenkonflikts

1. Begriff des Interessenkonflikts
2. Spezifische Funktion des Interessenkonflikts
3. Einzelfallbetrachtungen
a) Strafrechtsrelevante Interessenschädigung
b) Insichgeschäft
c) Widerstreitende Rechtspflichten
d) Geschäftschancenlehre
e) Haftungsregress
4. Systematisierungsansätze
a) Ausgangspunkt
b) Objektiver/subjektiver Beurteilungsmaßstab
c) Relevanzschwelle des Interessenkonflikts
d) Finanzielle und ideelle Interessen
IV. Vorbefassung als Interessenkonflikt
1. Sach- und pflichtgerechte Vorbefassung
2. Vorbefassung und Regressvermeidungsinteresse
V. Zusammenfassung


I. Einleitung

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Interessenkonflikte durch Vorbefassung bilden ein generelles Phänomen. Sie finden in unterschiedlichen Konstellationen Beachtung, die von einer gesetzlichen Regelung im Beurkundungsrecht bis zur Diskussion über die erforderliche Unabhängigkeit beim sog. Vertrauen auf Expertenrat reichen. 1 Besondere Beachtung verdient diese Konstellation in Bezug auf mögliche Haftungsrisiken des Vorstands. In der Praxis stellen sich zuweilen erhebliche Herausforderungen, deren Brisanz durch folgende Fälle exemplarisch verdeutlicht werden mag:

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Aus einer früheren M&A-Transaktion zur Veräußerung einer Geschäftssparte werden Garantieansprüche gegen die Gesellschaft geltend gemacht; ein großes Infrastrukturprojekt hat im Nachgang zu technischen Problemen auf der Kundenseite geführt, die zu einem beträchtlichen Finanz- und Reputationsschaden führen könnten; die unternehmensinterne Compliance-Abteilung hat Anhaltspunkte zu möglichen Unregelmäßigkeiten in der Beziehung zu einem früheren Zulieferer ermittelt; die Gesellschaft hat mit hohem Finanzaufwand in eine neue Technologie investiert, die sich später als nicht praxistauglich erweist.

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Wie soll sich die Gesellschaft in diesen Fällen positionieren? Welche Maßnahmen sind zu ergreifen? In all diesen Szenarien ist es denkbar, dass der Vorstand heute zur Behandlung dieser historisch veranlassten Sachverhalte Entscheidungen treffen muss und entsprechende Vorstandsbeschlüsse zu fassen sind. Möglicherweise waren einzelne oder mehrere Mitglieder des heutigen Vorstands auch bereits bei der Anbahnung, Ausgestaltung, Entscheidung oder Abwicklung des Ausgangssachverhalts involviert, also vorbefasst. Hat der Vorstand nun zu entscheiden, wie in diesen Situationen weiter verfahren werden soll, stellt sich die Frage, ob allein durch diese Vorbefassung ein relevanter Interessenkonflikt begründet wird, der eine Berufung auf die Haftungsprivilegien der Business Judgment Rule gefährdet.

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Die aufgeworfene Frage führt in der Unternehmenspraxis nicht selten zu einer Unsicherheit der betroffenen Entscheidungsträger. Diese Unsicherheit wurzelt – wie zu zeigen sein wird – ganz maßgeblich in einem schillernden Begriff des Interessenkonflikts. Im Aktienrecht fehlt es nämlich an einer allgemeinen, subsumtionsfähigen Legaldefinition und es kann weder auf einen ausdrücklichen Befangenheitskatalog noch auf eine positivierte Generalklausel zurückgegriffen werden. Auch in der Literatur trifft man auf Schwierigkeiten bei der Erarbeitung einer abstrakten Definition des Begriffs des Interessenkonflikts. Dies gilt insbesondere im Rahmen der Business Judgment Rule, bei der das Fehlen eines Interessenkonflikts als eigenständiges (negatives) Tatbestandsmerkmal angesehen wird. Zahlreiche Stellungnahmen definieren den Interessenkonflikt nicht, sondern setzen sein Fehlen schlicht voraus. Diejenigen, die sich an eine begriffliche Bestimmung des Interessenskonflikts machen, knüpfen an eine konkrete Gefahr eines Treuepflichtverstoßes an oder betonen, dass der Begriff weit zu fassen sei und sich auf alle Motive des Organmitglieds erstrecke, die eine unbefangene Artikulation des Gesellschaftsinteresses hindern. Zuweilen wird von einem „entgrenzten Konfliktbegriff“ im Aktienrecht gesprochen.

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Es verwundert insofern nicht, dass die bislang unternommenen Definitionsversuche eine gewisse Ratlosigkeit offenbaren, da die Formulierungen so konturenlos ausfallen, dass sie keine Subsumtion eines Sachverhaltes unter den Konfliktbegriff ermöglichen und den Rechtsanwender zu einer Einzelfallbeurteilung zwingen. Vor diesem Hintergrund bereitet auch die hier interessierende Frage, ob ein Interessenskonflikt durch schlichte Vorbefassung ausgelöst werden kann, in der Praxis Unbehagen. Das Erfordernis der Einzelfallbetrachtung bedeutet für die betroffenen Vorstandsmitglieder ein nicht wirklich zumutbares Haftungsrisiko, das in der Praxis auf wenig Verständnis trifft. Eine eingehende Untersuchung des Themas ist daher angezeigt. Sie soll sich aus den vorgenannten Gründen auf eine spezifische Konkretisierung des Begriffs des Interessenkonflikts im Kontext einer potentiellen Haftung des Vorstands beschränken.

II. Pflichtenregime und Business Judgment Rule
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Vorstandsmitglieder haben nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG in ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Mit dieser Bestimmung gibt der Gesetzgeber zunächst einen auf die spezifischen Aufgaben eines Unternehmensleiters zugeschnittenen Sorgfaltsmaßstab für die organschaftliche Haftung vor. Darüber hinaus enthält die Norm nach herrschender Meinung eine generalklauselartige Umschreibung der unternehmerischen Verhaltenspflichten einerseits, aus der Rechtsprechung und Rechtslehre andererseits situationsbezogen Einzelpflichten ableiten. Insgesamt erfüllt § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG damit eine Doppelfunktion als Verschuldensmaßstab und Pflichtenquelle. Verletzen Vorstandsmitglieder die aus dieser Verhaltensanforderung resultierenden Pflichten, sind sie der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet, § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG. Ist in einem konkreten Fall streitig, ob die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt wurde, so trifft das Vorstandsmitglied nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG die Darlegungs- und Beweislast hierfür.

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Eine Pflichtverletzung liegt nach § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG dann nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Nach allgemeiner Auffassung ist die Vorstandshaftung keine Erfolgshaftung, sondern eine Haftung für...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 28.06.2022 11:36
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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