Aktuell in der AG

Pflichten der Geschäftsleitung zur Geopolitik - Strategieentwicklung, Risikomanagement, Geschäftsführungsmaßnahmen sowie Berichterstattung von China-Geschäftsrisiken (Seibt, AG 2022, 833)

Die Beurteilung geopolitischer Ereignisse und Entwicklungen haben seit Kurzem höchste Priorität für Vorstände und Aufsichtsräte. Neben der Bewältigung der vielfältigen Folgen des Russland/Ukraine-Krieges für die Geschäftstätigkeit steht für deutsche Unternehmen vor allem die (Neu-)Beurteilung der China-Geschäftsaktivitäten, insbesondere nach der erneuten Bestimmung von Xi Jinping zum Generalsekretär der Chinesischen Kommunistischen Partei (CCP) auf deren 20. Parteikongress und weiteren personellen und inhaltlichen Beschlüssen, auf der Agenda. Die (Teil-)Entkoppelung der Wirtschaftskreise der USA und China wird von beiden Seiten dynamisch durch neue Gesetze und Exekutivanordnungen fortgeführt. Die deutsche Bundesregierung entwickelt zurzeit erstmals eine umfassende China-Strategie. Vor diesem Hintergrund der „geopolitischen Dauerkrise“ vermisst dieser Beitrag die gesellschaftsrechtlichen Pflichten von Vorstand und Aufsichtsrat insbesondere bei der Strategieentwicklung, beim Risikomanagement, bei Geschäftsführungsmaßnahmen sowie der Berichterstattung hierüber neu: „Pflichten der Geschäftsleitung zur Geopolitik“.

I. Anlass der Untersuchung
II. Pflichten des Vorstands

1. Pflicht zur Strategieentwicklung und Geopolitik
2. Pflicht zum Risikomanagement und Geopolitik
a) Risikomanagement mit Geopolitik-Berücksichtigung als Teil der Leitungsverantwortung
b) Maßnahmen der Risikoanalyse
c) Maßnahmen der Prävention eines Risikoeintritts sowie der Minimierung etwaiger Schäden
3. Pflicht zur getreuen Berichterstattung, Rechnungslegung sowie Stakeholder-Kommunikation und Geopolitik
4. Pflicht zur adäquaten Konzernorganisation und Geopolitik
5. Sorgfältige Geschäftsführungsmaßnahmen und Geopolitik
a) Einhaltung der Legalitätspflicht
b) Einhaltung der allgemeinen Sorgfaltspflicht bei unternehmerischen Entscheidungen
III. Pflichten des Aufsichtsrats
1. Mit-Geschäftsführung, Überwachung und Beratung
2. Personalkompetenz über den Vorstand und Geopolitik
3. Personelle Zusammensetzung des Aufsichtsrates und Geopolitik
IV. Summa


I. Anlass der Untersuchung

1
Vor allem seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 sind die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch die Kernbegriffe der Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity („VUCA“) gekennzeichnet. Die COVID‑19-Pandemie sowie der Russland/Ukraine-Krieg mit ihren jeweiligen vielfältigen Auswirkungen haben diese Analyse nun weithin verdeutlicht. Eine Ausprägung der VUCA-Rahmenbedingungen ist die „geopolitische Dauerkrise“, die nicht nur durch den Russland/Ukraine-Krieg, sondern vor allem durch den Systemwettbewerb zwischen den USA und China exemplifiziert wird. Nach dem aktuellen CFO Survey von Deloitte (Q1/2022) sehen 77 % der CFOs hohe geopolitische Risiken für ihre Unternehmen: Top 1-Risiko. Der gerade zu Ende gegangene 20. CCP-Parteikongress hat nach verbreiteter Ansicht eine personelle und inhaltliche Stärkung der Position von Xi Jinping gebracht, die die staatliche Kontrolle der Wirtschaft mit den Zielen eines „gemeinsamen Wohlstands“ und einer „hohen technologischen Unabhängigkeit“, eine „durchsetzungsfähige Diplomatie“, ein „stärkeres Militär“ und die „Übernahme von Taiwan“ in den Vordergrund stellt. Für deutsche Unternehmen mit China-Geschäftstätigkeiten sind folgende (geo-)politische Trendlinien relevant:

2
- Die teilweise Entkoppelung der Wirtschaftsräume der USA einerseits und China andererseits (sog. decoupling) schreitet durch nationale Maßnahmen beider Seiten fort, und zwar durch neue Rechtssetzung, Maßnahmen der Exekutive sowie weitere staatlich unterstützte Maßnahmen. Zu den US-Gesetzgebungsmaßnahmen gehören z.B. Exportbeschränkungen für bestimmte Hochtechnologiegüter nach China (z.B. CHIPS and Science Act of 2022 und umfassende Exportbeschränkungen des US Department of Commerce Bureau of Industry and Security bezogen auf „Advanced Computing and Semiconductor Manufacturing Items“) oder zu Lasten bestimmter Unternehmen und Importbeschränkungen von Gütern aus China (z.B. nach dem Uyghur Forced Labor Prevention Act [UFLPA] mit der Regelung einer widerleglichen Vermutung, dass aus der Xinjiang Uyghur Autonomous Region [XUAR] bezogene Güter einem Importverbot nach Section 307 Tariff Act of 1930 unterliegen). Darüber hinaus ist zu erwarten, dass in den USA eher kurzfristig eine Outbound-Investitionskontrolle nach China (und wenige weitere Jurisdiktionen) für bestimmte Wirtschaftsbereiche nach dem Konzept „small yard, high fence“ entweder gesetzlich (National Critical Capabilities Defence Act [NCCDA]) oder qua Regierungsdekret eingeführt wird. Es wird daher insbesondere für deutsche Hochtechnologieunternehmen zunehmend schwieriger, jedenfalls mit denselben Produktangeboten und denselben Wertschöpfungspartnern in beiden Wirtschaftsräumen tätig zu sein.

3
- Die Ausweitung der Geschäftsleiterpflichten über die Einzelgesellschaft und den Gesamtkonzern hinaus auf die gesamte Lieferkette, also Lieferanten und (teilweise) auch Kunden, durch das neu entwickelte Rechtsgebiet des Lieferkettenrechts betrifft in der Praxis vor allem auch Netzwerkpartner deutscher Unternehmen in China. Das Lieferkettenrecht – und zwar auch in seiner internationalen Dimension – und die Aufmerksamkeit relevanter Stakeholder in Deutschland bezieht sich nämlich derzeit insbesondere auf den Schutz bestimmter Menschenrechte, die Relevanz in China haben (z.B. Verbot der Zwangsarbeit, Recht auf freie Gewerkschaftsbildung). Das wird deutlich durch die Diskussion um die in den Xinjiang Police Files und dem UNHCR-Bericht vom 31.8.2022 dokumentierten Menschenrechtsverletzungen in der XUAR und die Konsequenzen für deutsche Unternehmen mit Geschäftsaktivitäten in der XUAR. Das Bestehen und der Umfang des China-Geschäfts deutscher Unternehmen ist ein relevanter Faktor der Unternehmensreputation und wird nun zunehmend ein Thema der rechtlichen Compliance.

4
- Es gibt darüber hinaus vermehrt Berichte über Konsumenten-(Boykott-)Kampagnen in China gegen westliche Unternehmen, und nach anekdotischer Evidenz nehmen administrative Benachteiligungen westlicher Unternehmen gegenüber lokalen Wettbewerbern zu. Darüber wird die Gefahr von Cyber-Betriebsspionagetätigkeiten durch chinesische Personen (ggf. durch staatliche Stellen geduldet) von Unternehmen hoch eingeschätzt.

5
- Die geopolitische Lage hat sich auch im Hinblick auf das bilaterale Verhältnis Deutschland/China durch die Vereinbarung einer „Freundschaft ohne Grenzen“ zwischen China und Russland vom 4.2.2022 („Friendship between the two States has no limits, there are no ‚forbidden‘ areas of cooperation“) sowie durch jüngste Einzelereignisse im Zusammenhang mit Taiwan (Auseinandersetzung mit Litauen über die Eröffnung eines Taiwan-Büros und Importverbote für in Litauen gefertigte Produkte z.B. des Automobilzulieferers Continental als Konsequenz hiervon; Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Taiwan und umfassende Militärübungen von China im Umfeld von Taiwan hiernach) signifikant verschlechtert.

6
Diese (geo-)politischen Trendlinien haben Auswirkungen auf die Pflichtenlage von Vorstand und Aufsichtsrat. Dieser Beitrag behandelt diese Auswirkungen im Hinblick auf die Pflicht zur Strategieentwicklung und -überprüfung, zum Risikomanagement, zur getreuen Berichterstattung und Rechnungslegung sowie zu sorgfältigem Geschäftsführerhandeln.

II. Pflichten des Vorstands

1. Pflicht zur Strategieentwicklung und Geopolitik

7
Eine Ausprägung der allgemeinen Leitungsaufgabe des Vorstands gem. § 76 Abs. 1 AktG ist die Pflicht des Vorstands zur strategischen Unternehmensplanung und -entwicklung, die mit der Berichtspflicht des § 90 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AktG korrespondiert. Dieses Pflichtrecht hat der Vorstand als Bestandteil der ihn treffenden Sorgfaltspflichten i.e.S. mit der nach § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG geforderten Sorgfalt wahrzunehmen. Die Vorstandspflicht zur strategischen Unternehmensplanung und -entwicklung steht nicht nur in einem engen Bezug, sondern vor allem auch...
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.11.2022 16:37
Quelle: Verlag Dr. Otto Schmidt

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